Sonntag, 20. August 2017

Ein Moment

Die Entscheidung, ob ich zahle und gehe... oder mir ein weiteres Glas Wein bestelle... spannend und wehmütig-beglückend, wovon ich sie gerade abhängig mache.

Es ist Sonntag. Ich war in der Kirche, habe eine Lesung gehört, die unseren Herrn Jesus als ausgesprochenen Rassisten ausweist, und eine Predigt, die diese Entgleisung sehr befriedigend erklärt hat, und nun sitze ich in jenem Schwabinger Lokal, das einst mein liebstes war, und nun, nach Geschäftsaufgabe und Neueröffnung zur Systemgastronomie entcharmt, nur noch sehr gelegentlich und allenfalls des hübschen Gartens wegen von mir aufgesucht wird.

Am Nebentisch sitzt eine Großfamilie, die ebenfalls in der Kirche war, junge Eltern dreier Kinder, dazu eine Cousine und eine Schwester des Vaters nebst Ehemännern und jeweils eigenen Kindern, zudem die dazugehörige Großmutter, und die ganze Sippe, nun ja, "paßt" zu mir, nicht nur des sehr klassischen Familienbildes wegen, in dem ich aufgewachsen bin und das mir nach wie vor Halt und Maßstab in allen Lebenslagen ist, sondern auch um der liebenswert konservativen Erscheinung willen, die sich durch sämtliche Generationen zieht, so mit Bayernjanker, Corpskacheln, Kleidchen und Tweedjacken, und die einer selbstgewissen Fröhlichkeit dennoch keinerlei Abbruch tut. Und so sitze ich am Nebentische, lausche den "typischen" Gesprächen, erfreue mich an den "typischen" Anblicken und lasse mich innerlich aufnehmen in diese Familie hier in Schwabing, so schrecklich fern von meiner eigenen Familie... 

Die Kinder spielen, die Erwachsenen bestellen sich eine nächste Runde Kaffee, und tatsächlich ist es dieses Verharren, diese ungebundene Zeitlosigkeit im Kreise der Liebsten, die mich vertraut-wohlig ansteckt und schließlich doch verweilen läßt, und statt zu zahlen und die wenigen Schritte nach Hause zu gehen, ordere auch ich mir Nachschub. 

Der Wein ist recht gut, ein Riesling aus meiner Heimat, und mit ihm durchströmt mich ein Gefühl tiefer Dankbarkeit, Dankbarkeit für die Ewigkeitsgarantie meiner Werte, meiner Herkunft und meines Verständnisses von Familie und Gemeinschaft und für den bedingungslosen Rückhalt, auf den ich immer werde zählen können. Und für einen Moment fühlt sich die bayerische Sonne fast an wie die (ansonsten ganz unvergleichliche) rheinische.

Sonntag, 13. August 2017

Keine Mauern

Überall scheint sie um sich zu greifen, die Sehnsucht nach dem behüteten Leben, der Ordnung und den überschaubaren, verständlichen und einfachen Verhältnissen, in denen der Staat sich um alles kümmert und die Homogenität der Gesellschaft die Konflikte klein und privat hält. Besonders im Osten richtet sich der Blick oft träumerisch zurück in die Zeit der "DDR", in der es viele der nach 1990 und erstrecht heute bestehenden Probleme scheinbar nicht gab.

Doch dürfen wir nie vergessen, daß dieser Staat ein Unrechtsstaat war, der seine Bürger einsperrte, bespitzelte und verfolgte, der willkürlich und politischen Vorgaben folgend Recht sprach und eigene Meinungen bei Strafe verbot, wenn sie nicht im Sinne des Regimes waren; ein Staat, der das Land völlig heruntergewirtschaftet hat, die wunderschönen Städte verfallen ließ und die Menschen in billige Plattenbauten pferchte, während seine Repräsentanten schamlos ihre Privilegien genossen.

Heute ist der 56. Jahrestag des Mauerbaus, und so sehr auch ich die Sehnsucht nach Ordnung und Sicherheit verstehen kann, möchte ich in einem autoritären, menschenverachtenden Staat wie der "DDR" nicht leben müssen und bin dankbar für die friedliche Revolution von 1989. Wer der absoluten Regelungsmacht des Staates das Wort redet, weil ihn die Komplexität einer freien Gesellschaft überfordert, bahnt den Weg in die Tyrannei. Wer aus Protest und dem (oft genug sehr berechtigten!) Gefühl sozialer Ungerechtigkeit Parteien wählt, die auf Ausgrenzung und Haß bauen, bereitet Leid, Krieg und Elend vor.

Die Mauer ist gefallen, und wir dürfen sie nicht auferstehen lassen - nicht in unseren Köpfen, nicht in unseren Herzen und nicht innerhalb unserer Gesellschaft. Dafür sind - da herrscht hoffentlich Einigkeit - Recht und Freiheit zu wertvoll und zu groß. Wir müssen sie nicht opfern, um ihren Feinden zu trotzen, sondern ihre Grundsätze zum unverhandelbaren Maßstab dafür machen, wie wir leben wollen.