Donnerstag, 22. Dezember 2016

Ihr verliert.

Wieder mal 13 Menschen umgebracht. Ein Grund zu feiern für euch Luschen. Ein weiterer glorreicher Sieg im Kampf gegen die Ungläubigen. Feige und ehrlos – diese Begriffe kennt ihr wohl nur, wenn Menschen sich lieben wollen, denen ihr das Recht dazu absprecht. Oder wenn sich jemand angeekelt von eurem perversen Aberglauben abwendet, weil er nicht mehr für Gottes Willen halten kann, was ihr anrichtet. Ihr aber feiert euren jämmerlichen Triumph, weil ihr glaubt, unsere Gesellschaft wieder mal ins Mark getroffen zu haben.

Habt ihr aber nicht. Ja, ihr habt Leid verursacht, Familien unglücklich gemacht und Menschen, die Freunde, Kollegen, Väter, Mütter, Kinder, Geschwister und Geliebte waren, aus ihrem Umfeld, aus dem Leben gerissen. Aber ihr erschüttert uns nicht. Eure Rechnung geht nicht auf. Weder erstarren wir nun in Angst, noch lassen wir uns zum selben primitiven Haß hinreißen, der euch antreibt. Pech für euch – Ihr verliert.

Gewiß, es gibt sie auch bei uns, die schlichten Geister, die Rattenfänger und Trittbrettfahrer, die sich nun darin bestätigt sehen, daß "die Muslime" den Terror in unser Land bringen; die Demagogen, deren einzige Antwort auf euer erbärmliches Treiben ist, euren Haß zu spiegeln und die eine Menschengruppe gegen die andere aufzuhetzen; die Schwachen und Ängstlichen, die nun ihre Zerbrechlichkeit, ihre dürre, labile Persönlichkeit überspielen, indem sie umso stärker tun und umso lauter schreien. Aber sie sind in der Minderheit. Die Masse, die Gesellschaft als solche trefft ihr nicht. Pech. Ihr verliert.

Die meisten von uns glauben an die Freiheit, an die offene Gesellschaft, die jeden Lebensentwurf begrüßt, der sich nicht gegen ihre Werte oder gar ihre Existenz richtet. Die meisten von uns lieben es, in einem freien Land zu leben, in dem niemand uns vorschreibt, wie wir uns zu kleiden oder an was wir zu glauben haben. Wir haben etwas gelernt aus unserer Geschichte: Terror und Unterdrückung sind scheiße, und Haß schafft niemals etwas anderes als Leid. Und das macht uns stark. Wir sind nicht eingeschüchtert. Wir werden auch unseren algerischen Friseur und unseren türkischen Gemüsehändler jetzt nicht boykottieren. Wir werden uns nicht zur Uneinigkeit hinreißen lassen – nicht von euch Versagern. Pech. Ihr verliert.

Wißt ihr, ihr unterschätzt uns. Ja, eine gute Figur machen zur Zeit weder "der Westen" noch die Regierung noch die Sicherheitsbehörden. Es gibt Fehler und Mängel im System, klar, und deshalb glaubt ihr, wir seien schwach. Wir haben vielleicht ein bißchen zu lange in Sicherheit gelebt, um einen ausreichenden Selbstschutz zu kultivieren. Aber das kann man nachholen. Was uns jedoch unbesiegbar macht, sind die drei Dinge, die wir in unserer Nationalhymne besingen:

Einigkeit und Recht und Freiheit.

Hohe, edle Werte, Ideale meinetwegen, zu deren vollständiger Verwirklichung es noch mehr permanente Anstrengung braucht, aber doch etwas unumstößlich Gutes. Dagegen ist euer dumpfer Haß, eure Gewalt, euer fanatisches Geschrei und eure tierische Mordlust machtlos.

Uns kriegt ihr nicht unter. Ihr verliert.

Montag, 19. Dezember 2016

Jeder Tag ist Silvester

Das Jahr geht dem Ende zu, und alle Welt zieht Bilanz. Wie war 2016? Was habe ich gut gemacht, was habe ich schlecht gemacht, und was mache ich nächstes Jahr bestimmt ganz anders? So fragt man sich gern in diesen Tagen. Aber warum eigentlich?

Denn jeder Tag ist Silvester, wenn es darum geht, Mängel zu erkennen und Veränderungen anzugehen. Jeder Tag gibt uns die Chance, eine neue, unbeschriebene Seite unseres Lebensbuches aufzuschlagen und eine ganz neue Geschichte zu beginnen. Jeder Tag lädt dazu ein, schonungslos zu analysieren, wo man steht und wohin man geht und inwieweit sich das mit dem deckt, was man wirklich will - im Beruf, in der Beziehung, in Freundschaften und im Engagement für die Dinge, die einem wichtig sind. Jeden Tag können wir uns und damit die Welt ein bißchen verbessern, Mitleid zeigen, Güte leben, Hilfe anbieten, Liebe schenken. Warum also wächst dieses Rückschaubedürfnis in den letzten Tagen des Jahres so stark an?

Seien wir nicht zu hart - es liegt eben in unserer Natur. Der Mensch denkt in Zyklen, in Zäsuren und überschaubaren Zeiteinheiten. Zum Jahreswechsel Bilanz zu ziehen, gibt uns ein Gefühl von Regelmäßigkeit, eine Ordnung, die anstehende Veränderungen und Notwendigkeiten beherrschbarer macht und ihnen zugleich die feierliche Note einer Lebenswende, eines unbeschwerten Neuanfangs verleiht. So etwas erhebt, beschwingt und erfreut das Herz, und daher hat es seine Ordnung damit.

Wenn ich auf 2016 zurückblicke, fällt mir als erstes auf, daß mir noch niemals in meinem Leben die Kluft zwischen meiner persönlichen Bewertung und der weltgeschichtlichen Entwicklung so groß schien. Für mich selbst war es ein tolles Jahr - ich bin meiner kleinen Tochter näher gekommen, habe beruflich unschätzbare Erfahrungen gemacht; ich habe interessante Kontakte geknüpft und bereichernde Bekanntschaften geschlossen. Hier und da konnte ich helfen, trösten und raten. Ich war in London, Wien, Paris, München und sogar Bratislava, auch zu Hause am Rhein und auf einem schönen Schloß. Meine Ehe ist glücklich, meine Familie gesund, mein Kind fröhlich. Es gab keine Unfälle, schweren Krankheiten, Nöte und Todesfälle, und geschrieben habe ich auch wieder mehr als im Vorjahr - Herz, was willst du mehr?

Und doch hat mich nie zuvor ein Jahr so bestürzt, geängstigt, so wütend und verzweifelt gemacht hat wie dieses. Krieg, Terror, Not und Leid millionenfach; unmenschliche Regime in Syrien, der Türkei und Russland, Demagogen und Populisten im Aufwind, Haß und Hetze, Angst und Wut, Gewalt und eine grassierende Reanimalisierung des Menschen durch die gezielte Stimulation niederster Instinkte und brutalster Reflexe... all das erschüttert mich zutiefst. Was ich für unumkehrbar gehalten habe, verdreht sich in sein Gegenteil; was mir als ewiger Halt erschien - die Einigkeit, das Recht und die Freiheit, Europa und der unbedingte Glaube an die Demokratie - zerbröselt unter unseren Augen... Der Anstand, die pure Menschlichkeit, Rückgrat und Moral, Haltung und unverrückbare Überzeugungen sind bei so vielen, von denen man sich entschlossenes Handeln an verantwortlicher Stelle erhofft, nicht zu erkennen, und die Behelfskategorien Gut und Böse, mit denen man das Unfaßbare zu fassen versucht, verwässern bis zur Unkenntlichkeit. Was bleibt, ist Orientierungslosigkeit und für viele das verzweifelte Grapschen nach allem, was Halt und Ordnung verspricht.

Doch wo mir etwas fehlt, sehe ich mich in der Pflicht, es zu schaffen. Je mehr Rückgrat ich vermisse, desto mehr Haltung muß ich selbst zeigen. Je mehr Hilflosigkeit ich erlebe, desto mehr Hilfe muß ich geben. Je mehr Angst sich breit macht, desto mehr Mut muß ich beweisen. Je mehr Haß unseren Alltag durchwirkt, desto mehr Liebe will ich verbreiten. Alles, was ich anders haben will, muß ich bei mir beginnen lassen - das ist die einzige Chance, die Welt wirklich zu verbessern, für die Menschen, für mein Kind, für alle.

Für diese Erkenntnis und diesen guten Vorsatz lohnt sich denn doch der etwas klischeehafte Jahresrückblick.