Montag, 30. Mai 2016

Mein Versuch...

...mir die ganze Gauland-Geschichte klarzumachen, die seit vorgestern so hohe Wellen in Medien und sozialen Netzwerken schlägt: Nehmen wir an, Alexander Gauland hat wirklich gesagt, was zitiert wird. Dann ist darin nicht zwingend eine rassistisch motivierte Äußerung zu sehen, sondern lediglich eine Beobachtung jenes Alltagsrassismus in Deutschland, der in der Annahme, viele wollten keinen Schwarzen als Nachbarn (denn Boateng war hier gewiß nicht als berühmter Fußballer gemeint, sondern als Vertreter seiner "Rasse", an dem die verlogene Bigotterie vieler Deutscher zwischen Bewunderung und Ablehnung besonders deutlich wird) ja nicht zu widerlegen ist. Insoweit vermag ich mich der allgemeinen Empörung noch nicht anzuschließen.

Nun wäre Gauland aber nicht Gauland, wenn er sich plötzlich als scharfer Kritiker rassischer Vorbehalte gerierte. Bei der Interpretation seiner Aussage darf und sollte man also genauer hinschauen. Denn was sagt er eigentlich? Oder besser: mit welcher Implikation sagt er es? Hätte ich den zitierten Satz von mir gegeben, oder einer meiner publizierenden Freunde, dann wäre er wohl als jene Beobachtung unverdächtig gewesen, die ich oben beschrieben habe.

Bei Gauland jedoch spielt eine weitere Ebene hinein: Er sieht sich und seine Partei als Stimme des (noch) mehrheitlich schweigenden Volkes. Wenn er behauptet, "die Leute" fänden Boateng als Fußballer gut, wollten "einen Boateng", also nicht ihn, sondern jemanden wie ihn, nicht als Nachbarn, wird damit ein Volkswille heraufbeschworen, der bei Gauland eben nicht die Konsequenz zeitigt, Weltoffenheit, Toleranz und friedliches Miteinander zu fördern und rassistischen Tendenzen entgegenzutreten, sondern eben jenen vermeintlichen Volkswillen endlich zu respektieren und eine entsprechend rigide Flüchtlings- und Einwanderungspolitik zu betreiben. Darin liegt seine subtile Agitation, sein versteckter Rassismus, und allein das kann und sollte Gegenstand der Empörung sein. 

Gauland ist geschickt. Er weiß um die komplexen Wirkmechanismen des gut gewählten Wortes, und so hält es auch die AfD als solche: haarscharf an der Grenze, so daß genug Interpretationsspielraum bleibt, sich herauszureden und eine weiße Weste zu behalten, und dennoch eine unterschwellig fatale Wirkung in den schlichteren Köpfen in Gang zu setzen. Wer kann, sollte tiefer blicken. Denn auf dieses manipulative Spiel hereinzufallen und die berechtigte weltanschauliche Empörung über die Axiome der AfD an jedem Stöckchen auszulassen, das ihre Gaulands und Höckes der Medienlandschaft hinhalten, um diese anschließend als hysterisch, voreilig und dumm vorzuführen, weil man es ja ganz anders gemeint habe, ist grundfalsch und nützt letztlich der Sache, die man zu bekämpfen versucht.

Dienstag, 3. Mai 2016

Das Kamel

Ein Wüstentod

Heiß und trügerisch flimmerte die Luft über dem staubigen Wüstenboden, über den sich mit letzter Kraft ein ausgetrockneter Mann dahinschleppte. Jeder Atemzug schmerzte, als führe ihm eine glühend-scharfe Klinge durch die Nase bis in die Stirn hinauf. Seine Füße brannten; die glitzernden, versandeten Blasen, die er sich gelaufen hatte, peitschten mit jedem Schritt quälende Schmerzen in seine Schienbeine, und die erbarmungslose Sonne versengte ihm vom gelblich-blauen Himmel herab den Nacken. Den Gedanken an Wasser oder einfach nur an ein Wandern ohne Schmerzen hatte sein kochendes Hirn längst verlernt. Allenfalls eine staubige, blasse Erinnerung daran, daß es Leben und Landschaften, Seen, Felder und Bäume außerhalb der Wüste gab, in der er schon so lange wanderte, stieg zuweilen in ihm auf wie ein trockener Husten.

Kaum konnte er noch aus den brennenden Augen schauen, als er in der Ferne eine Bewegung zu erkennen glaubte. Tatsächlich, da ging ein Kamel. Nur ein paar hundert Meter weit entfernt lief es gemächlich in die gleiche Richtung wie er. Und da war noch etwas. Weiter weg, am Horizont, genau oberhalb des Kamels ging auf einer Anhöhe eine Frau. Fast sah es aus, als verschmölzen beide Gestalten, ja als ritte eine winzigkleine Frau auf einem riesigen Kamel. In Wirklichkeit, dachte der Mann dumpf, müsse sie wohl etwa genausoweit von dem Kamel entfernt sein wie er. Nur auf der anderen Seite. Doch verließ ihn dieser Gedanke sogleich für einen stärkeren: Reiten, dachte er, nur ein kleines Stück sich tragen lassen, vielleicht sogar zu einer Siedlung, einer Oase... oder wenigstens einer Höhle zum Sterben. Ein wenig nur die Füße schonen. Auf dem Kamel sitzen, nur für ein paar Meilen. Oder für immer.

Er versuchte zu rufen. Aber seiner Kehle entrang sich nur mehr ein Krächzen. Sofort änderte das Kamel seine Richtung und lief auf den Mann zu, der sein Glück nicht fassen konnte. Eine Woge von Kraft und Zuversicht durchflutete und berauschte ihn, die alle Erschöpfung vergessen machte, und als das Kamel bei ihm ankam und sich bereitwillig niederließ, wollte er schon aufsteigen. Doch das Bild der winzigen Frau auf dem riesigen Kamel schob sich in seine Gedanken. Sie und das Kamel gehörten zusammen! Wenn er es nun zu sich gerufen hatte, dann doch nur, um es ihr zu schicken, es ihr zu schenken und gemeinsam weiterzureisen. Nein, er konnte nicht alleine reiten. Wie hatte er das je glauben können? „Geh“, sagte er heiser, „und hol sie. Laß sie reiten. Zu mir.“ Und das Kamel stand auf und lief behende über den heißen Wüstenboden in Richtung der Frau.

Von Ferne sah er, wie es bei ihr ankam. Es schien ihm, als lächelte sie kurz, und auch er lächelte, so glücklich machte ihn diese Begegnung in der Wüste. Doch dann erstarb ihr Lächeln; er konnte es spüren. Ihr Blick wurde streng und hochmütig, und er sah, wie sie das Kamel fortschickte. Zurück zu ihm. Zurück in den Staub. Und treu und geduldig lief das Kamel zurück.

„Nein“, rief er trocken, „nicht zu mir! Zu ihr gehörst du! Komm, wir gehen gemeinsam!“ Und als er die Frau von Ferne wieder lächeln und winken sah, führte er das Kamel in ihre Richtung zurück, Schritt für Schritt, und aller Schmerz wich von ihm. Die Füße trugen ihn sicher, und das Atmen der heißen Luft fiel ihm plötzlich leicht.

Sie kamen der Frau immer näher, und mit jedem Schritt wurde ihr Lächeln ein wenig starrer. "Schau doch", sagte er zu ihr, "du kannst mit mir reiten! Sicher und bequem, fort aus dieser Wüste!" Doch als er ihr das Kamel übergeben wollte, huschte ein Ausdruck von Angst durch ihre Augen, der sofort kalter Ablehnung wich, und abermals erstarb ihr Lächeln. „Verschwinde!“ rief sie. „Ich will nicht mit dir reiten. Nimm dein blödes Kamel und such dir eine andere Reisebegleitung!“ Und mit dem Fuß trat sie ihm eine Wolke heißen Staubs ins Gesicht. Mehr als der Staub aber brannte die Verachtung, die er von ihr erfuhr, und eine verzweifelte Ratlosigkeit, was er wohl falsch gemacht hatte, ergriff sein Herz. Doch er ging, wie ihm geheißen.

Nach ein paar hundert Metern drehte er sich um und sah – er rieb sich die Augen – ja, wirklich, er sah, wie sie einen anderen Mann auf dem Rücken trug. Sie lachte künstlich. Vielleicht glaubte sie, zu reiten, vielleicht dachte sie auch nur, für ihn müsse es aus der Ferne in der flimmernden Luft, die alle Wesen verschmelzen läßt, so aussehen… aber tatsächlich war sie es, die sich reiten ließ, von jenem anderen Mann, der ihr kein Kamel anbot, sondern sie wie eins benutzte, mitten in der heißen Wüste. Und sie lachte dabei und schaute spöttisch zu ihm herüber. Wut und Trauer stiegen in ihm auf, und hätte er noch weinen können, wären ihm gewiß die Tränen gekommen. Aber es war zu heiß, zu tot, zu trocken in ihm. Und so wandte er sich ab.

„Hallo!“ hörte er sie hinter sich rufen und drehte sich um. Der andere Mann war weg. Hatte es ihn je gegeben? Die Frau lächelte wieder, aber diesmal schwach und traurig. „Hallo!“ rief sie wieder. Und Mitleid und Liebe ergriffen sein Herz. Er schwang sich auf das Kamel, diesmal ganz sicher, endgültig zu ihr zu finden, und ritt auf sie zu. Doch abermals wurde ihr Lächeln härter und kälter, je näher er ihr kam, und als er fast bei ihr angelangt war, begann sie ihn anzuschreien: „Ich sagte doch, ich werde nicht mit dir reiten! Hau endlich ab und hör auf, mich zu belästigen!“ Und mit einem kleinen Messer stach sie dem Kamel in die Seite, ins Bein und in den Hals und verletzte es in ihrer blinden Wut sehr schwer. Fassungslos und voller Entsetzen und Ekel drehte der Mann das Kamel herum und trieb es zur Flucht an, weg, nur weg von dieser Frau, ihrer Unberechenbarkeit, ihrem Undank, ihren dummen Launen und ihren anderen Gestalten.

Das Kamel hinkte. Eine tiefe Wunde klaffte an seiner Seite, und heißes Blut tropfte auf den Wüstenboden. Immer noch flimmerte die Luft vor sengender Hitze, die Sonne brannte, und das Atmen fiel dem Mann schwer wie nie. Die Wüste hatte nun den Höhepunkt ihrer glühenden, höllischen Grausamkeit erreicht. Und als ihm eben die Sinne vergehen wollten vor Durst, Schmerz und Trauer, glaubte er, in der Ferne eine Stimme zu hören.

„Hallo!“ rief die Frau leise. Er wandte sich um, und in diesem Moment knickte das verletzte Kamel ein. „Nein“, krächzte er, „nein“… und wollte weiterreiten, doch das Kamel war am Ende seiner Kräfte. „Ich tue dir nichts“, sagte die Frau, „ich weiß, ich war gemein, aber jetzt will ich gern mit dir reiten! Ich wollte es doch im Grunde immer schon. So gern... aber weißt du, Kamele sind groß, mächtig und stark. Eins von ihnen hat mir mal sehr wehgetan. Daher fürchte ich sie und schickte deins immer wieder fort.“ Und sie stolperte auf den Mann und das Kamel zu, das nun zusammengesunken am Wüstenboden lag. Den Mann aber überwältigte in diesem Moment ein berauschendes Bild von kristallklarem Wasser in einem glitzernden See, an dessen Ufern die saftigsten Früchte wuchsen. Die fruchtbaren Felder trugen satte Ernte, und im warmen Sonnenschein kitzelte ein duftender Windhauch die Nasen der Menschen. Alles Glück schien wahr, jeder Traum erfüllt an diesem Ort, und Schmerz und Leid waren vergessen. Und mittendrin sah er sich und die Frau stark, schön und strahlend auf dem Kamel zu ihrem Haus am See reiten, das weiß in der Sonne leuchtete. „Ja“, hauchte er mit letzter Stimme, „reiten wir. Zusammen. Siehst du auch… da… unser Haus. Den See. Die grünen Bäume… reiten wir ins Glück…“ „Ja, ins Glück“, antwortete sie und setzte sich zu ihm auf das Kamel, gerade über die klaffende Wunde. Das Tier schrie vor Schmerz auf, dann krachte sein Kopf auf den Wüstensand, und seine dunklen, treuen Augen wurden glasig. Es war tot.

„Wir reiten“ … „für immer“ … „zusammen“ … „ins Glück“ Solche Fetzen stammelnd lagen der Mann und die Frau auf dem toten Kamel, beide mit dem berauschenden Bild im Kopf vom glitzernden See, dem weiß leuchtenden Haus, den grünen Bäumen und den satten Feldern. Bis die sengende Sonne auch ihnen das Leben ausgebrannt hatte und sie dem heißen Wüstenstaub überließ.