Sonntag, 21. Februar 2016

Noch'n Bekenntnis

Ich gebe es zu: Auch ich bin ein besorgter Bürger. Wie könnte ich nicht besorgt sein? Die Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge stellt uns vor ungeheure, beispiellose Herausforderungen, und auch der wohlgesonnenste Beobachter wird einräumen, daß nicht alle, die zu uns kommen, liebe, nette und dankbare Menschen sind.

Die kulturellen Unterschiede sind zum Teil enorm, das Verständnis von Gesellschaft, Freiheit und sozialem Miteinander unterscheidet sich oft sehr von dem, was uns hierzulande "normal" und wünschenswert erscheint. Erscheint, wohlgemerkt, denn der bittere Haß der rechten Stimmungsmacher, die landauf, landab nicht einzelne Menschen, sondern ganze Gruppen, Ethnien und Religionen unter den Verdacht übelster Absichten stellen und eine allgemeine Bedrohung, eine kollektive Gefahr beschwören, nur um damit ebenso kollektive Gemütsregungen auszulösen, ist auch nicht eben Ausdruck abendländischer Kultur. Manche kommen elitär und intellektuell daher (oder was sie eben dafür halten) und lassen allem gedrechselten Geschwätz zum Trotz doch jede Weisheit vermissen. Manche grölen dumm und tierisch drein und sind mit dieser Stammhirnobergrenze nicht minder archaisch als die in mittelalterlichen Wahnvorstellungen von Ehrenmord und Frauenunterwerfung befangenen Exemplare unter den Neuankömmlingen.

Ja, all das besorgt mich. Als Bürger und Bewohner dieses Landes, das ich liebe. Es besorgt mich, wie sich der Ton verschärft, wie die Sitten verrohen, wie die Bereitschaft zur Gewalt wächst und Andersdenkende sogar von "guten Christenmenschen" gehaßt, beleidigt und verunglimpft werden. Es besorgt mich, wie ein unumkehrbar geglaubtes Wertesystem zu erodieren beginnt unter den ätzenden Einflüssen niederster Instinkte, die nur Kampf und Flucht, nicht aber Gespräch und Verständigung kennen. Es besorgt mich, in einem Europa zu leben, das seine moralische Überlegenheit nicht stark und unbeirrbar behauptet, sondern einem unmoralischen politischen und oft genug auch schlicht wirtschaftlichen Kalkül opfert. 

Und auch die Weltlage besorgt mich. Ein böser Zwerg im Kreml, der so leer, so bitter und so unglücklich ist, daß nur die Bedrohung anderer Länder, die Ermordnung von Gegnern, die Unterdrückung von Kritik und das unbedingte Streben nach Macht seinem kümmerlichen Wesen Bestätigung und (vielleicht) ein bißchen Befriedigung verschafft... und den selbst im freien, wohlständigen Deutschland als Erlöserfigur zu verehren sich manche nicht entblöden. Ein verbrecherisches Menschenzerrbild in Syrien, das sein eigenes wunderschönes Land zerbombt, sein eigenes kultiviertes Volk ermordet, nur um weiter herrschen zu können, worüber eigentlich?, über ein Ruinenfeld, einen Massenfriedhof...

Macht. Welch erbärmliche, herzensdumme Triebfeder für irgendein Tun. Geltung. Überlegenheit. Stärke. Wie abstoßend, wie niedrig. Wie wertlos als Maßstab für die Güte eines Menschen. Und doch Motivation aller Missetäter: Vom grölenden Pack vor einem Reisebus auf einer kalten Dorfstraße über den schamlosen Provinzpolitiker, der im Blitzlichtgewitter in Verbrecherärsche kriecht, bis zum selbstbesessenen Herrscher in seinem goldenen Palast - sie alle verbindet das Gefühl der tiefen Minderwertigkeit. 

Denn Haß ist immer ein Produkt von Minderwertigkeitsgefühlen. Vielleicht liegt in diesem Gedanken ja ein Ansatz zur Verbesserung. Das würde meine Besorgnis lindern. Als deutscher Bürger.

Samstag, 13. Februar 2016

Verschwommene Bilder

Bilder verschwimmen. Bilder im Kopf. Was uns einst scharf und leuchtend vor dem geistigen Auge stand, wird mit der Zeit trüb und blaß. Ist es ein Nachlassen der inneren Sehkraft, die, von Gewohnheit abgenutzt, immer schwächer wird? Oder ist es das tatsächliche Verfliegen ehemals klarer Vorstellungen, die dem Sturm des Lebens einfach nicht standzuhalten vermochten?

Diese Gedanken kommen mir, während ich im Weissen Brauhaus sitze, geflohen vor einem dummen Streit und traurig darüber, daß der Samstag nun einen so ganz anderen Verlauf nimmt als gedacht. Unterdessen wird mir der Salat gebracht. Ich erkenne rote Beete. Ich mag rote Beete nicht.

Mal ehrlich: Wir glauben so scharf zu sehen, Menschen, Dinge, Situationen und Perspektiven so klar zu erkennen, daß wir uns freudig darauf einlassen und meinen, alles müsse so bleiben, wie unser geistiges Auge es vor sich sah. Und plötzlich wird alles zum Nebel, verschwimmt, verzerrt sich bis zur Entstellung, und wir müssen das geistige Auge ganz schön zusammenkneifen, um zu ahnen, welches unserer schönen, bequemen Bilder das mal war. 

Traurig nehme ich die erste Gabel Salat. Rote Beete gelangt in meinen Mund. Mist. Um die wollte ich doch herumessen.

Unser geistiges Auge also... Doch halt!

Die rote Beete schmeckt ja gut! Ihr Bild in meinem Kopf war die ganze Zeit klar. Aber ich... ich scheine mich verändert zu haben. Denn meinem klaren Bild vom ungeliebten Geschmack entspricht das Gemüse einfach nicht mehr. So wie ich selbst vielleicht nicht mehr dem Bild entspreche, das ich selbst von mir habe.

Ich denke nach. Ja, vielleicht verschwimmen Bilder im Kopf. Vielleicht verklären sich Vorstellungen, und Erwartungen nutzen sich in der rauhen Lebenswirklichkeit ab. Vielleicht aber liegt das nicht immer am Wandel der Welt, sondern an uns. Ohne es zu merken, ohne Bilder und Erwartungen in Frage zu stellen, verändern wir uns und messen doch alles, was geschieht oder unterbleibt, nur an unseren starren Vorstellungen. Wo längst ein neues, scharfes leuchtendes Bild an die Stelle des verschwommenen treten und ganz neue Perspektiven eröffnen könnte, ver(sch)wenden wir all unsere Kraft und Zeit darauf, mit zusammengekniffenem geistigen Auge unbedingt das erkennen zu wollen, was uns vertraut schien. Wie töricht! Wie dumm auch, einen Streit um Bilder zu führen.

Ich esse meinen Salat auf - mit der roten Beete, die mir (nicht zum ersten Mal) geholfen hat zu erkennen. Und auf einmal ist dieser Samstag gar nicht mehr so traurig.