Donnerstag, 22. Dezember 2016

Ihr verliert.

Wieder mal 13 Menschen umgebracht. Ein Grund zu feiern für euch Luschen. Ein weiterer glorreicher Sieg im Kampf gegen die Ungläubigen. Feige und ehrlos – diese Begriffe kennt ihr wohl nur, wenn Menschen sich lieben wollen, denen ihr das Recht dazu absprecht. Oder wenn sich jemand angeekelt von eurem perversen Aberglauben abwendet, weil er nicht mehr für Gottes Willen halten kann, was ihr anrichtet. Ihr aber feiert euren jämmerlichen Triumph, weil ihr glaubt, unsere Gesellschaft wieder mal ins Mark getroffen zu haben.

Habt ihr aber nicht. Ja, ihr habt Leid verursacht, Familien unglücklich gemacht und Menschen, die Freunde, Kollegen, Väter, Mütter, Kinder, Geschwister und Geliebte waren, aus ihrem Umfeld, aus dem Leben gerissen. Aber ihr erschüttert uns nicht. Eure Rechnung geht nicht auf. Weder erstarren wir nun in Angst, noch lassen wir uns zum selben primitiven Haß hinreißen, der euch antreibt. Pech für euch – Ihr verliert.

Gewiß, es gibt sie auch bei uns, die schlichten Geister, die Rattenfänger und Trittbrettfahrer, die sich nun darin bestätigt sehen, daß "die Muslime" den Terror in unser Land bringen; die Demagogen, deren einzige Antwort auf euer erbärmliches Treiben ist, euren Haß zu spiegeln und die eine Menschengruppe gegen die andere aufzuhetzen; die Schwachen und Ängstlichen, die nun ihre Zerbrechlichkeit, ihre dürre, labile Persönlichkeit überspielen, indem sie umso stärker tun und umso lauter schreien. Aber sie sind in der Minderheit. Die Masse, die Gesellschaft als solche trefft ihr nicht. Pech. Ihr verliert.

Die meisten von uns glauben an die Freiheit, an die offene Gesellschaft, die jeden Lebensentwurf begrüßt, der sich nicht gegen ihre Werte oder gar ihre Existenz richtet. Die meisten von uns lieben es, in einem freien Land zu leben, in dem niemand uns vorschreibt, wie wir uns zu kleiden oder an was wir zu glauben haben. Wir haben etwas gelernt aus unserer Geschichte: Terror und Unterdrückung sind scheiße, und Haß schafft niemals etwas anderes als Leid. Und das macht uns stark. Wir sind nicht eingeschüchtert. Wir werden auch unseren algerischen Friseur und unseren türkischen Gemüsehändler jetzt nicht boykottieren. Wir werden uns nicht zur Uneinigkeit hinreißen lassen – nicht von euch Versagern. Pech. Ihr verliert.

Wißt ihr, ihr unterschätzt uns. Ja, eine gute Figur machen zur Zeit weder "der Westen" noch die Regierung noch die Sicherheitsbehörden. Es gibt Fehler und Mängel im System, klar, und deshalb glaubt ihr, wir seien schwach. Wir haben vielleicht ein bißchen zu lange in Sicherheit gelebt, um einen ausreichenden Selbstschutz zu kultivieren. Aber das kann man nachholen. Was uns jedoch unbesiegbar macht, sind die drei Dinge, die wir in unserer Nationalhymne besingen:

Einigkeit und Recht und Freiheit.

Hohe, edle Werte, Ideale meinetwegen, zu deren vollständiger Verwirklichung es noch mehr permanente Anstrengung braucht, aber doch etwas unumstößlich Gutes. Dagegen ist euer dumpfer Haß, eure Gewalt, euer fanatisches Geschrei und eure tierische Mordlust machtlos.

Uns kriegt ihr nicht unter. Ihr verliert.

Montag, 19. Dezember 2016

Jeder Tag ist Silvester

Das Jahr geht dem Ende zu, und alle Welt zieht Bilanz. Wie war 2016? Was habe ich gut gemacht, was habe ich schlecht gemacht, und was mache ich nächstes Jahr bestimmt ganz anders? So fragt man sich gern in diesen Tagen. Aber warum eigentlich?

Denn jeder Tag ist Silvester, wenn es darum geht, Mängel zu erkennen und Veränderungen anzugehen. Jeder Tag gibt uns die Chance, eine neue, unbeschriebene Seite unseres Lebensbuches aufzuschlagen und eine ganz neue Geschichte zu beginnen. Jeder Tag lädt dazu ein, schonungslos zu analysieren, wo man steht und wohin man geht und inwieweit sich das mit dem deckt, was man wirklich will - im Beruf, in der Beziehung, in Freundschaften und im Engagement für die Dinge, die einem wichtig sind. Jeden Tag können wir uns und damit die Welt ein bißchen verbessern, Mitleid zeigen, Güte leben, Hilfe anbieten, Liebe schenken. Warum also wächst dieses Rückschaubedürfnis in den letzten Tagen des Jahres so stark an?

Seien wir nicht zu hart - es liegt eben in unserer Natur. Der Mensch denkt in Zyklen, in Zäsuren und überschaubaren Zeiteinheiten. Zum Jahreswechsel Bilanz zu ziehen, gibt uns ein Gefühl von Regelmäßigkeit, eine Ordnung, die anstehende Veränderungen und Notwendigkeiten beherrschbarer macht und ihnen zugleich die feierliche Note einer Lebenswende, eines unbeschwerten Neuanfangs verleiht. So etwas erhebt, beschwingt und erfreut das Herz, und daher hat es seine Ordnung damit.

Wenn ich auf 2016 zurückblicke, fällt mir als erstes auf, daß mir noch niemals in meinem Leben die Kluft zwischen meiner persönlichen Bewertung und der weltgeschichtlichen Entwicklung so groß schien. Für mich selbst war es ein tolles Jahr - ich bin meiner kleinen Tochter näher gekommen, habe beruflich unschätzbare Erfahrungen gemacht; ich habe interessante Kontakte geknüpft und bereichernde Bekanntschaften geschlossen. Hier und da konnte ich helfen, trösten und raten. Ich war in London, Wien, Paris, München und sogar Bratislava, auch zu Hause am Rhein und auf einem schönen Schloß. Meine Ehe ist glücklich, meine Familie gesund, mein Kind fröhlich. Es gab keine Unfälle, schweren Krankheiten, Nöte und Todesfälle, und geschrieben habe ich auch wieder mehr als im Vorjahr - Herz, was willst du mehr?

Und doch hat mich nie zuvor ein Jahr so bestürzt, geängstigt, so wütend und verzweifelt gemacht hat wie dieses. Krieg, Terror, Not und Leid millionenfach; unmenschliche Regime in Syrien, der Türkei und Russland, Demagogen und Populisten im Aufwind, Haß und Hetze, Angst und Wut, Gewalt und eine grassierende Reanimalisierung des Menschen durch die gezielte Stimulation niederster Instinkte und brutalster Reflexe... all das erschüttert mich zutiefst. Was ich für unumkehrbar gehalten habe, verdreht sich in sein Gegenteil; was mir als ewiger Halt erschien - die Einigkeit, das Recht und die Freiheit, Europa und der unbedingte Glaube an die Demokratie - zerbröselt unter unseren Augen... Der Anstand, die pure Menschlichkeit, Rückgrat und Moral, Haltung und unverrückbare Überzeugungen sind bei so vielen, von denen man sich entschlossenes Handeln an verantwortlicher Stelle erhofft, nicht zu erkennen, und die Behelfskategorien Gut und Böse, mit denen man das Unfaßbare zu fassen versucht, verwässern bis zur Unkenntlichkeit. Was bleibt, ist Orientierungslosigkeit und für viele das verzweifelte Grapschen nach allem, was Halt und Ordnung verspricht.

Doch wo mir etwas fehlt, sehe ich mich in der Pflicht, es zu schaffen. Je mehr Rückgrat ich vermisse, desto mehr Haltung muß ich selbst zeigen. Je mehr Hilflosigkeit ich erlebe, desto mehr Hilfe muß ich geben. Je mehr Angst sich breit macht, desto mehr Mut muß ich beweisen. Je mehr Haß unseren Alltag durchwirkt, desto mehr Liebe will ich verbreiten. Alles, was ich anders haben will, muß ich bei mir beginnen lassen - das ist die einzige Chance, die Welt wirklich zu verbessern, für die Menschen, für mein Kind, für alle.

Für diese Erkenntnis und diesen guten Vorsatz lohnt sich denn doch der etwas klischeehafte Jahresrückblick.



Freitag, 25. November 2016

Fürchten, hoffen, glauben - wie fühlt man sich mit einem PräsidentenTrump?

Es kommt mir vor wie eine (wenn nicht DIE) Geißel der Menschheit - das Ego von Machtmenschen. Irgendwie erscheint es als Zeichen der Zeit, daß Dinge nur noch getan, Karrieren nur noch gemacht und Positionen nur noch angestrebt werden, um eben dieses Ego zu befriedigen, nicht aber um der Zwecke und Ziele willen, die eigentlich mit einer Stellung, einem Amt oder einer Position verknüpft sein sollten. Und so wird man auch bei Donald Trump das Gefühl nicht los, es sei ihm bei seiner Kandidatur eher darum gegangen, etwas zu beweisen als darum, etwas zu bewirken, ja als wolle er ganz vorrangig sich selbst und dann vielleicht auch Amerika "great" machen.

Lustigerweise unterstellt man solchen Machtmenschen immer ein besonders großes Ego; die Rollen, die sie anstreben, so nimmt man gern an, müssen groß genug sein, damit das gewaltige Ego Platz hat. Ich erlaube mir hingegen eine ganz andere Vermutung: Ein Ego, ein Ich also, eine Persönlichkeit, die so gierig nach äußerer Größe sucht, ist doch in ihrem Urzustand, ihrer eigentlichen Wesensart wohl eher klein. Wer Ansehen und Bestätigung in einem solchen Übermaß braucht, mit dessen natürlicher Selbstachtung kann es aller zur Schau gestellten Arroganz und Überheblichkeit zum Trotze nicht weit her sein.

Was, so frage ich mich oft, bleibt von einem Menschen übrig, wenn man ihm alles nimmt, was ihn äußerlich definiert? Wer nicht der Versuchung erliegt, sich irgendwann mit seinem Werk zu verwechseln, wer allen Ansehens, allen Besitzes und aller gesellschaftlichen Bedeutung entkleidet immer noch durch und durch er selbst ist, sich anzunehmen und in Würde zufrieden zu bleiben vermag, DER hat ein großes Ego. Herrn Trump traue ich das nicht zu. Und eben das macht mir Sorgen. Zwar darf wohl den meisten Führungspersönlichkeiten unterstellt werden, daß es ihnen stets ein bißchen mehr um sich selbst als um die Sache geht; bei Trump jedoch erscheint diese Diskrepanz so gewaltig, daß sich die Frage nach seiner psychischen Zuverlässigkeit stellt. Bislang verbietet sich wohl ein unmittelbarer Vergleich mit Putin oder Erdogan, aber die geistige Disposition erscheint durchaus ähnlich.

Und so sind denn die Gefühle einem Präsidenten Trump gegenüber gemischt; hoffend geklammert an den Glauben an die amerikanische Demokratie und ihre Kontroll- und Regulationsmechanismen, bange gleichwohl der Wankelmütigkeit der Menschen und auch politischer Systeme gegenüber. Für den Moment bleibt kaum anderes als abzuwarten, zu beobachten, zu warnen und wachsam zu bleiben. Über den Großen Teich hinweg, und auch und ganz besonders in unserem eigenen Land.

Sonntag, 6. November 2016

Remember, remember...

...the 6th of November. 
2006

Auf einer nebligen Autobahn war er unterwegs durchs frühmorgendliche Bayern in Richtung Wien. Es war, als strecke sich das Land bis zum endgültigen Erwachen noch einmal wohlig aus und verlängere so seinen Weg bis zur Grenze, jener Grenze, die er entschlossen überschreiten würde. Nicht nur die Landesgrenze. Er war – da machte er sich nichts vor – auf dem Weg zu seinem ersten Seitensprung.

Was dachte er sich dabei? Er hatte ein "perfektes Leben"; alles, was Menschen sich landläufig wünschen, hatte er erreicht – eine zauberhafte Frau, ein schönes Zuhause, eine eigene Firma, ein komfortables Einkommen und die allmorgendliche Wahl, ob er den Rolls oder die S-Klasse zur Arbeit nehmen wolle. Und doch: Nach fünfzehn Jahren unverbrüchlicher Treue war er bereit, diese eine bedeutende Grenze zu überschreiten. Ganz bewußt und nicht einmal im Geheimen. Seine Frau wußte so gut wie er, was geschehen würde. Sie hatte selbstverständlich mitbekommen, wie intensiv sein oft nächtelanger Austausch über Skype und SMSe mit jener Sängerin in Wien in den letzten Wochen geworden war. Ihr war nicht entgangen, wie attraktiv diese Frau war, und wie sehr sie all seine Defizite, alles, was seinem "perfekten" Leben so offenkundig fehlte, verkörperte – Sex, Künstlertum, Lust, Freiheit. 

Diese Sängerin, diese Symbolfigur allen Begehrens, allen Mangels... Sie erzählte ihm von Premierenfeiern und Affären, von Proben und Krisen, von Begehren und Betrug. Sie nannte sein Dasein "gediegen" und traf damit den empfindlichsten Nerv seiner sorgfältig weggesperrten Künstlerseele. Was ihn zunächst als leise Ahnung davon beschlichen hatte, wie das Leben jenseits seiner geordneten, festgefahrenen Existenz sein könne, war längst zu einer schwülstigen Phantasie zügelloser Wonnen angeschwollen, und nichts anderes als seine Gier nach all den ekstatischen Bildern von ihr in seinem Kopf beschäftigte ihn seither. Er aß nicht, er schlief nicht, er arbeitete nicht. Er wollte nur sie.

Schon der Klang ihres Namens ließ ihm ein wollüstiges Schaudern über den Rücken laufen. Dabei war dieser Name nicht einmal besonders schmeichelnd. Ihm fehlte durchaus das Weiche, Sinnliche, welches seinen Effekt auf ihn vielleicht zu erklären vermocht hätte. Tatsächlich kam er sogar recht kantig daher mit seinem harten Konsonanten zu Beginn, der rauhen Zusammenstellung von r, s und t mittendrin und dem spitzesten und ungeschmeidigsten Vokal am Ende, den unsere Aussprache kennt. Und doch ließ dieser Name, den er sich wieder und wieder vorsagte, sogleich ihr betörendes Bild vor seinem geistigen Auge erstehen.

Genau genommen war es kein Bild, welches sich ihm darbot. Es war ein Gesamteindruck aus all den kleinen Feinheiten, den Details und Reizen, die er wahrnahm, wann immer er ihr begegnete. Ihr Blick traf ihn aus tiefen, schönen Augen, denen die langen Wimpern stets etwas Sinnlich-Schläfriges verliehen. Er sah ihr Haar weich auf ihre hübschen Schultern fallen. Der winzige Leberfleck auf ihrem Schlüsselbein weckte in ihm das unbändige Verlangen, sie an dieser Stelle zu küssen. Ihr Mund, ihr Lächeln, das immer ein bißchen zwischen Spott und Zuneigung hin- und herspielte, ließ sein Herz einen kleinen, unangenehmen Sprung machen. Die eleganten Bewegungen ihres schlanken Körpers machten ihn schmerzlich erahnen, zu welchen Ausdrucksformen sie in anderen Lebenslagen fähig war. Ihre Stimme, die so bühnensicher, so deutlich und klangvoll sprach, die souverän mit Nuancen und Modulationen spielte, wollte er hören, wenn ihr beherrschter Klang sich in hemmungsloser Leidenschaft, in einem Stöhnen, einem Seufzen verlöre...

Er wollte sie. Er wollte sie so sehr, daß es wehtat. Ein halbes Jahr lang hatten ihre ständig wiederholten Prinzipien ihn in den Wahnsinn getrieben, nach denen sie zwar kein Kind von Traurigkeit und zu körperlichen Begegnungen durchaus auch auf einer unverbindlichen Basis bereit sei, jedoch nicht mit Freunden, wie sie es mittlerweile waren, und schon gar nicht mit verheirateten Männern. Diese unüberwindbar geglaubte Grenze hatte seine Lust, sein Leid, sein unstillbares Verlangen und die namenlose Verzweiflung der letzten Wochen ins schier Unerträgliche gesteigert. Er hatte sich nie vorstellen können, wie sich eine Obsession anfühlt – schon weil er im Grunde seines beherrschten Wesens keinerlei Verständnis für so etwas hatte. Jetzt wußte er es nur zu genau.

Dabei war ihm absolut klar, daß er projizierte. Natürlich hatte er mit seinen 36 Jahren Nachholbedarf – seine Frau war tatsächlich die erste und bisher einzige Frau, mit der er je etwas gehabt hatte, zudem, obschon liebenswert und süß, nicht so ganz und gar "sein Typ" – sehr bürgerlich, ein bißchen bieder mit einem intellektuellen Vorbehalt gegen die animalischen Niederungen sexueller Lüste. Eher seine beste Freundin, die zu heiraten schlechterdings richtig und sinnvoll erschienen war. Bis eben jemand auftauchte, der nachgerade einen Gegenentwurf dazu darstellte und damit eine Saite in ihm anschlug, die von frühster Jugend an stark und wirkmächtig vorhanden war, aber sich auszuleben nie die Gelegenheit bekommen hatte: seine unbändige Lust an der Sinnlichkeit.

Und nun war er also unterwegs auf einer nebligen Autobahn in Richtung Wien und fuhr auf die Grenze zu. Die Gelegenheit war günstig. Ein sehr persönliches Ereignis in ihrem Leben hatte sie und ihn noch enger verbunden als es die nächtelangen Chats schon getan hatten, und ihr seither immer koketter, intimer und sinnlicher werdender Umgang schien ihre so ehernen Prinzipien ein wenig aufgeweicht zu haben. Was also lag näher, als sich einen Termin in Wien zu konstruieren und sich ihr zum Besuch anzukündigen, eine Scharade, die sie natürlich ebenso durchschaut hatte wie seine Frau. Aber sie hatte nicht abgesagt.

Und so kam er an in einer Stadt, die vor Sinnlichkeit und Verführung strotzte. Er betrat ihre Wohnung; sie plauderten ein bißchen verlegen, mieden "das Thema". Dann zeigte sie ihm ihr Wien. Licht und Raum, Duft und Klang, prachtvolle Fassaden und lockende Vielfalt, eine Maßlosigkeit, eine Anzüglichkeit, ein theaterhaftes Idealbild von Fülle und Möglichkeiten lag süß in allen Straßen der funkelnden Innenstadt. Bummeln, Abendessen, ein schneller Einkauf, und es ging zurück zu ihr. Sein Nachtlager hatte sie ganz offensichtlich nicht auf der Couch, sondern in ihrem Bett vorgesehen, und so geschah endlich, wovon er seit Monaten geträumt hatte – sein erster Seitensprung, sein erster Sex mit jemandem, der nicht die Erste war... Sie war ganz offenkundig sehr erfahren, hatte alle Tricks drauf und spulte ein Programm ab, das keine Wünsche offen ließ. Und dennoch blieb dieses Abenteuer als erotisches Erlebnis zweitklassig. Er war viel zu befangen, viel zu sehr Opfer seines schlechten Gewissens, und letztlich auch zu unerfahren, zu ungeschickt, ihr bemerkenswertes Repertoire voll ausschöpfen zu können. Sie selbst schien ihn gar nicht wahrzunehmen; sie hatte die Augen geschlossen und genoß völlig ungeachtet der konkreten Person einfach nur, worauf sie an dem Abend ohnehin Lust gehabt hatte: Sex.

Und dennoch befreite ihn diese Nacht – von seiner Obsession, von seinen Phantasien und von den selbstgesteckten Grenzen dessen, was das Leben zu bieten hatte. In der Vereinigung mit dieser Frau hatte sich ein lange verschütteter, ja unterdrückter Teil seines Wesens Geltung verschafft und würde wohl nicht mehr zu bändigen sein: seine Libido, die Lust am Sex, die Gier nach Vielfalt und Abwechslung, die rastlose Jagd nach Bestätigung und Erfahrung, die grenzenlose Neugier darauf, wie unsagbar verschieden und leidenschaftlich Frauen sein können.

Er fuhr zurück in sein geordnetes, wohlständiges Leben. Die S-Klasse säuselte dahin, seine Gedanken tanzten einen bizarren Reigen mit neuen und alten Gefühlen, hell bestrahlt vom Licht der triumphalen Erfahrung und kühl gedämpft von den Gewissensnöten und Ängsten in Bezug auf das, was nun kommen würde: Die Rückkehr in sein altes Leben. Die Erklärungen, die Tränen. Der Anfang vom

Ende.

Dienstag, 25. Oktober 2016

Du und Du

Es gibt Dich zweimal.
Die eine schreibt mir.
Die andere begegnet mir.

Die eine schreibt: Ich liebe Dich.
Die andere sieht mich gefühllos an.
Die eine schreibt: Ich vermisse Dich,
Die andere gibt sich gleichgültig.
Die eine schreibt: Ich begehre Dich.
Die andere verletzt mich tief.
Die eine schreibt: Ich sehne mich nach Dir.
Die andere weist mich kühl ab.
Die eine schreibt: Ich will mit Dir leben.
Die andere bemüht sich um gar nichts.

Die eine bringt mein Herz zum Singen.
Die andere bricht es entzwei.

Es gibt Dich zweimal.
Welche bist Du?

Nachsatz, 28.10.:
Ich frage nicht mehr. Ich lasse beide gehen. Ihr könnt ja zusammen Waffeln essen oder so. Die haben auch zwei Seiten. Eine, die dem Boden, dem ewigen Dunkel zugewandt ist, und eine, über der Luft und Licht und endlose Möglichkeiten sind. Bis mal wieder jemand das Waffeleisen zuklappt, natürlich.

Samstag, 22. Oktober 2016

Was ist so toll an der Macht?

Meine Gedanken zum Streben nach Status, Ansehen und Einfluß

Nichts in der Menschheitsgeschichte verwirrt mich so sehr wie das immer wiederkehrende Phänomen der Macht. Ständig ist von gewaltigen Imperien die Rede, von großen Eroberern und genialen Strategen. Ränke werden geschmiedet, Allianzen geschlossen und immer, wirklich immer werden Gegner unschädlich gemacht, um die Macht zu erlangen, zu festigen oder zu vergrößern. Bei einigen wenigen Figuren hat das eine mörderische Eleganz, eine entsetzliche Schönheit; man hat das Gefühl, daß bei ihnen der strategische Aspekt, das erregende, riskante Spiel im Vordergrund steht, jener existenzielle Kitzel auf dem Weg zur Macht, der eine ganz bestimmte Art von Genie erfordert – und anspricht. Bei den meisten jedoch ist das Gebaren so plump, gierig und ungenial, daß man bald zu der Überzeugung gelangt, es gehe ihnen um den Endzustand, das eine und einzige Ziel Macht, zu der der Weg eher brutale Notwendigkeit als selbstbezweckender Reiz ist. Und während ich für die erste Sorte noch ein gewisses spielerisches Verständnis habe, frage ich mich bei der zweiten einfach nur: Warum? Was um alles in der Welt ist so toll daran, die Macht zu haben? Herrschen und unterdrücken zu können? Was ist so erstrebenswert daran, sein Leben den niedersten, häßlichsten, tierischsten Wesenszügen des Menschen zu weihen, zu kämpfen, zu töten, zu zerstören, nur um der Größte und Stärkste zu sein?

Auf den ersten Blick liegt die Antwort nah: Es ist ein tierischer Trieb, ein evolutionär verankertes Streben danach, in der Rangordnung des Rudels und damit bei der Erhaltung der Art ganz vorn mit dabei zu sein und die schwächeren Rivalen auszustechen; letztlich also eine biologisch-sexuelle Veranlagung, an der der Filter menschlicher Vernunft schlichtweg versagt. So weit, so gut.

Humanismus vs. Animalismus - wer beherrscht wen?

Nächste Frage: Warum versagt dieser Filter? Warum steht das Menschliche in uns so selbstverständlich hinter dem Tierischen zurück, wenn es um Macht geht? Oder spezifischer gefragt: Warum wird der Wille zur Macht, der Trieb zum Aufstieg in der Hierarchie, ja das Konzept einer Hierarchie der Stärke an sich eigentlich nie grundsätzlich in Frage gestellt, sondern allenfalls in seinen extremen Spielarten? Beispiel: Über Putin oder Erdogan läßt es sich trefflich ereifern – skrupellose Machtmenschen an der Spitze totalitärer Staatssysteme, die vor Einschüchterung, Lügenpropaganda, vor Krieg und Mord nicht zurückschrecken, um sich und ihre armselige Idee von Größe zu behaupten. Dergleichen wird verurteilt, weil es menschenverachtende, illegale Methoden anwendet. Die Methoden werden dem Urteil und der Kritik einer empörten Moral unterworfen – nicht aber das prinzipielle Verhaltensmuster des Machtstrebens. Nehmen wir zum Beispiel „Game of Thrones“ – eine Serie, deren enormer Erfolg mir schon des unsäglich langweiligen Grundkonzepts wegen unbegreiflich bleibt. Denn in ihr geht es einzig und allein um: Macht. Sämtliche Protagonisten, egal, ob ihr Charakter sympathisch oder unsympathisch gezeichnet ist, wollen nichts als diesen dämlichen Eisernen Thron. Damit sie alle anderen beherrschen können. Und dieses einzige Leitmotiv der gesamten Geschichte wird von niemandem in Frage gestellt. Es ist selbsterklärend, für Millionen von Fans ein faszinierender Kitzel ihrer eigenen, unkritisch akzeptierten Triebe.

Und genau hier, in den Tiefen unserer stammhirngesteuerten Kampfinstinkte zeigt sich ein grundlegender Zusammenhang zwischen despotischer Staatsbeherrschung und dem banalen Karrierestreben durchschnittlicher Managementaspiranten, den wir recht konsequent übersehen. Wir nennen das eine Tyrannei und das andere Erfolg, und doch wird beides getrieben von dem einen Wunsch, das Beste, der Stärkste, der Größte zu sein. Daran messen wir – außerhalb politischer Despotie – sogar den Wert und die Attraktivität von Menschen, um kaum jemand stellt diesen Maßstab in Frage. Denn Macht bedeutet Anerkennung, und die wünscht sich jeder. Ansehen, Stellung, Geld und Einfluß gelten als sexy. So ist es nun mal. Schon im Märchen muß es der Prinz sein, der das Mädchen bekommt, denn nur der, und nicht etwa der anständige, liebevolle Bauernjunge, verkörpert den Traum vom Aufstieg, genau wie „Pretty Woman“ oder „Sex and the City“ keine halb so ergreifenden Liebesgeschichten bieten würden, wären die beteiligten Herren keine Multimillionäre.

Getrieben oder gegossen? Spielarten der Persönlichkeitsverwirklichung 

Nicht falsch verstehen – hier geht es nicht um eine grundsätzliche moralische Bewertung des Erfolgs. Seine Ressourcen optimal zu nutzen und möglichst wirksam einzusetzen, ist nicht per se verwerflich. Ohne Erfolgsstreben gäbe es schließlich keinerlei Fortschritt, weder in der Technologie noch in der Wissenschaft oder in der Medizin. Und ganz ehrlich – ich möchte nicht mehr in einer Welt ohne Antibiotika leben. Es geht vielmehr um die psychologische Triebfeder in uns, die Erfolg überhaupt erst zu einem Wertmaßstab des Lebens erhebt. Und auf dieser Ebene läßt sich denn durchaus eine Verbindung herstellen zwischen den Diktatoren dieser Welt und aufstiegsgeilen Jungbankern. Was diese im akzeptierten Rahmen erstreben, betreiben jene bis zur absoluten Skrupellosigkeit: die Überdurchschnittlichkeit, die Erfüllung allgemein anerkannter Rollenmuster. Und genau das ist es eben: Diese Rollen werden von außen, durch die Gesellschaft festgelegt. Sie sind wie starre Formen, die der Einzelne exakt auszufüllen hat, um Geltung zu erlangen. Und das ist eben alles andere als sexy. Es ist nachgerade armselig.

Ein Bild dazu: Als in meiner Heimatstadt Koblenz 1990 beschlossen wurde, das im Krieg zerstörte Denkmal Kaiser Wilhelms I. wieder zu errichten, wurde eine genaue Kopie des ursprünglichen Reiterstandbildes in Auftrag gegeben. Der einzige Unterschied zum Original war, daß die neue Skulptur aus Kostengründen gegossen und nicht getrieben wurde. Beim Treiben wird dem Blech mit Hammer und Stößel von innen heraus eine von der äußeren Welt nicht vorbestimmte, sondern sich aus sich selbst verwirklichende Form in einem grundsätzlich unbegrenzten Gestaltungsraum gegeben. Beim Guß hingegen ist die Form, der Gestaltungsraum von außen her bis ins Detail fest vorgegeben. Das Material hat sich darin vollständig und präzise zu verteilen – die geringste Abweichung, die kleinste Blase, und der Guß gilt als gescheitert. Und genau so leben die meisten sogenannten Erfolgsmenschen: Um eines vollständig vorherbestimmten Ergebnisses willen füllen sie nach Kräften eine Form, eine Rolle und damit eine soziale Erwartung aus. Denn wo eine äußere Form, eine kollektive Definition bestimmt, was erfolgreich, bewunderns- und erstrebenswert ist, verlieren individuelle Eigenschaften an Bedeutung. Das allgemein gesetzte und anerkannte Lebensziel löst einen kollektiven Wettlauf aus, in dem der egoistische Wille zum Sieg über die anderen das einzige individuelle Moment darstellt. Leistung und Wettkampf werden zur Grundlage des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, Erfolg schwillt zur Wertkategorie an. Abweichungen gelten bestenfalls als sonderbar, Rücksichtnahme und Altruismus als Schwäche und Anpassungsschwierigkeiten als Versagen. Die Stärke wird zum ultimativen Maßstab, von der PS-Kraft des Autos bei jugendlichen Heißspornen auf dem Drive-In-Parkplatz über die Zahl der „Likes“ bei Facebook und den hochdotierten Vorstandsposten bis zur Machtentfaltung an der Staatsspitze.

Und da haben wir ihn wieder, den animalischen Kampf des Starken gegen das Schwache. Der menschliche Verstand, die humanistische Einsicht in höhere Zusammenhänge, die fatalen Folgen eines nur auf Wettbewerb gerichteten Wertesystems, all das tritt zurück hinter dem Primat der Durchsetzungskraft. Ein Paradebeispiel hierfür ist Donald Trump, von dem man meinen möchte, er widerlege meine These, da doch kaum jemand seine individuellen Persönlichkeitsmerkmale so hemmungslos zum Lebensentwurf gemacht hat wie er. Tatsächlich aber belegt auch sein Gebaren das gleiche Muster: Wenn er davon spricht, wie toll er ist, verwendet er allgemeingültige Erfolgsklischees als Referenzgrößen; jemand, der nicht soundso viele Arbeitsplätze geschaffen oder Millionen verdient hat, ist für ihn ein Versager und hat ihm nicht zu reinzureden. Die Individualität wird von Herrn Trump zwar im Extrem ausgelebt, aber eben vor der Folie einer vollmundig inszenierten und prinzipiell allgemein anerkannten Erfolgsgeschichte, die seine Exaltiertheiten überhaupt erst rechtfertigt. Einem Wallmart-Kassierer ließe man ein vergleichbares Benehmen nicht durchgehen, geschweige denn, daß er als Präsidentschaftskandidat in Frage käme.

Was wirklich sexy ist? Erfolg als Nebeneffekt.

Gibt es eigentlich etwas Dümmlicheres als die werblich in Dauerschleife inszenierte Siegerpose à la Boris Becker mit aufgerissenem Mund und fanatischem Blick auf die eigene geballte Faust am angewinkelten Arm, die uns das Gefühl des Erfolgs suggerieren soll? Wohl kaum. Und dennoch ist bei den meisten Menschen der Drang, das Leben zu gießen, sehr viel ausgeprägter als es zu treiben. Vorgefertigte Gußformen erscheinen offenbar attraktiver als ein grenzenloser, individueller Gestaltungsraum. Man steigt auf; toll. Man wird Chef; super. Irgendwann noch mehr Chef; Siegerpose. Man baut sich ein großes Haus, einen Palast. Man spielt Rivalen aus, inhaftiert Gegner und bringt Kritiker um. Man lügt, betrügt, man festigt seine Macht und die Gewißheit, daß man nun der Allergrößte ist. Grandios. Aber diese Erreichungen sind Rollenelemente und eben keine persönlichkeitsbildenden Merkmale. Fühlt man sich also wirklich besser? Ist man glücklicher? Glücklich ist doch wohl, wer seiner Innerlichkeit wegen, um der einzigartigen Person willen, die er ist, Anerkennung und Liebe erfährt. Fürchten wir also einen Mangel an Wertschätzung, wenn die Ausgestaltung unserer Innerlichkeit keinem allgemeinen Muster entspricht und daher keinen Wiedererkennungs- und Assoziationswert besitzt? Will man deshalb das eigene Land als Weltmacht sehen, oder die eigene Religion als einzig wahre? Halten wir das, was wir aus uns selbst heraus gestalten könnten, für so viel wertloser als das von außen als Idealziel Vorgegebene? Und wird das Erfolgs- und Geltungsstreben an sich damit nicht zum Ausdruck eines gigantischen Minderwertigkeitskomplexes?

Ja. Die Vorstellung, wir könnten die Wertschätzung unserer Persönlichkeit durch die Erfüllung allgemeiner äußerer Merkmale erreichen, ist einigermaßen irre. Die einzige Erklärung für die Anziehungskraft des allgemein Anerkannten gegenüber dem ganz Persönlichen ist, daß man sich bei ersterem nicht mehr erklären und sozusagen für das Letztere rechtfertigen muß. Das Allgemeine, das Rollenmuster ist selbsterklärend, der Einordnung zugänglich, und überlagert als Image das Individuelle, wie eine Uniform, an deren Gestaltung, Insignien, Orden und Abzeichen sogleich erkennbar ist, was ihr Träger ist. Ämter, Orden, Titel, Preise beweisen Leistung. Besitz verdeutlicht Überlegenheit. Die einen stellen sich betont als VON Weber vor, die anderen bestellen ihre Brötchen in der Bäckerei auf DOKTOR Meier. Kurz: Die Rolle erzählt die Geschichte; der Mensch dahinter bleibt gut versteckt. Wer sich als Persönlichkeit nicht liebenswert genug findet, zieht sich eben auf gelernte Klischees zurück, die ihm unhinterfragt ein Mindestmaß an Anerkennung sichern – so zumindest der Grundgedanke. Daß es sich dabei um einen gigantischen Irrtum handelt, der uns einem echten Anerkennungs- und Glücksgefühl kein Stück näherbringt, weil die Uni(guß)form mit all ihren Insignien eben nur erzählt, WAS, nicht aber WER ihr Träger ist, wird dabei gern übersehen – aus Dummheit, Feigheit oder Bequemlichkeit. Kurz: Die Motivation zu Ansehen, Stellung und Macht wirkt insoweit wie eine psychische Störung und erscheint mehr und mehr als verzweifeltes Surrogat unzulänglicher Persönlichkeiten für eine unabhängige, individuelle Entfaltung ihrer Qualitäten ohne Blick auf Ansehen und Wirkung. Und so geht er weiter, der Kampf um die Macht, die Anerkennung, und er wird wohl zur Not mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Nachteile Dritter geführt – in der Familie, im Unternehmen, im Staat. Es steckt einfach in uns drin, und viele Menschen sind schlechterdings zu schwach, sich der allgemeingültigen Maßstäblichkeit des Erfolgs zu entziehen. Lustig eigentlich, daß sich auf diese Weise die vermeintlich Starken als die eigentlich Schwachen, die angeblich so großen Egos der Erfolgsmenschen als die kleinsten erweisen.

Zum Glück gibt es aber auch andere Erfolgsmodelle (ich sagte ja: Erfolg wird hier nicht als solcher verdammt). Der Gutmenschenerfolg zum Beispiel: Dem Dalai Lama wird der Ausspruch in den Mund gelegt: „Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr. Der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler, Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Arten.“ Je nun. Frieden zu stiften, zu heilen und zu lieben sind doch auch Erfolge! Ganz bedeutende sogar, und erst die machen den Erfolg als Kategorie menschenwürdig. Es kommt eben auf die Definition an. Erfolg als Sieg des Stärkeren ist eben nicht, was einen guten Menschen ausmacht, sondern viehisch und würdelos.

Und dann gibt es noch diese Typen, bei denen sich der Erfolg wie zufällig nebenbei einstellt, weil sie es wagen, ihr Leben zu treiben statt zu gießen und ihre ganz eigene Persönlichkeit zum Maßstab zu erheben. Viele Künstler (echte) machen es so, aber auch Unternehmertypen, die eben nicht Erwartungen erfüllen, sondern Visionen entwickeln, die nicht das Ziel des Erfolgs, sondern den Weg der Leidenschaft im Sinn haben. Erfolg als Nebenprodukt schonungsloser, unangepaßter Individualität – das macht nicht notwendigerweise gute Menschen aus, aber es ist zumindest sexy. Sehr viel sexier als der 08/15-Lebenslauf des millionsten Vorstandszombies oder die dumpfe Tyrannei despotischer Diktatorenzwerge.

Was also ist so toll an der Macht? Meine Antwort: Nichts, was eines Menschen würdig wäre. Absolut gar nichts.

Montag, 17. Oktober 2016

Das Geschenk

Wie schwarzer Nebel steigt sie aus dem Boden, die Dunkelheit der geschlossenen Hotelbar von damals. Die ganze Szene formt sich wieder vor mir, nimmt erneut Gestalt an, wird abermals wirklich - die verlassene Rezeption, der tiefe Raum mit den einfachen Tischen, der summende Kühlschrank - "nehmt euch da was raus", das war der ganze Service, bevor der Rezeptionist ins Bett ging und uns allein ließ im Finsteren... Die nächtliche Stille, die Bank in der Ecke beim großen Fenster, durch das das bleiche Licht der Straßenlaterne fiel, der Sessel, auf dem Du so nah bei mir saßt und doch so unerreichbar warst. Ein Geschenk, grausam, stechend schmerzhaft, weil Du es nicht für mich eingepackt hattest, stand in diesem dunklen Raum und sog das letzte Licht, das letzte bißchen Wärme auf, bis eine Wand aus frostiger Luft zwischen mir und Dir entstand, an der mein Sehnen erfror. Du behauchtest sie mit Worten, die mich verstehen lassen sollten, und doch nur zu eisigen Spitzen erstarrten an dieser Wand. Und aus dem tiefen Raum begann sie, auf mich zu-, in mich hineinzukriechen, die Dunkelheit. Sie sickerte mir ins Herz, ins Hirn und legte sich als schwere Traurigkeit auf mein Gemüt. So wie es in diesem Moment der schwarze Nebel tut, der jener Szene von damals neuerlich Form und Wirklichkeit gibt, hier auf unserem Sofa, im bleichen Licht der Straßenlaterne.

Sonntag, 16. Oktober 2016

Diese dämlichste aller Fragen an den unglücklich Liebenden: "Und wie geht's dir?"

Wie es mir geht?
Kaum etwas ließe sich darauf ehrlich antworten, das nicht gleich in eine der Kategorien "Unter-Druck-setzen", "Ein-schlechtes-Gewissen-machen" oder einfach "Jammern" rutschen würde. Ich sage also: Fabelhaft. Ich sage Dir nicht, wie es mir geht. Denn um mich geht's grad nicht.

Wie es mir geht?
Ein namenloses Entsetzen hält mein Herz in eisigen Klauen. Kalter Ekel würgt immer wieder, nächtelang, die schrecklichsten Gewissheiten empor und wühlt in meiner Kehle. Eine Flut unerträglicher Bilder tost in meinem Kopf, und kein mühsam errichteter Damm tröstlicher Gedanken, festgeklopft von wohlmeinenden Freunden, hält ihr Stand. Mit ist schwindlig vor Schmerz und Lust, und mein verzweifeltes, hoffnungsloses Begehren, die Wut, der Neid, die bittere Enttäuschung zerfrißt mich langsam und mit gnadenloser Endgültigkeit.

Wie es mir geht?
Nicht toll. Aber beherrschbar. So wie ich immer all meine Gefühle beherrscht, meine Probleme bewältigt und meine Bedürfnisse den Deinen untergeordnet habe. Gut, das nach jahrelanger Übung endlich zu können. Denn Dir geht's ja gut. Das ist das Wichtigste.

Wie es mir geht?
Danke, gut.

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Klarer Standpunkt

„Biete eine klare Meinung“, sagte mir kürzlich eine sehr erfolgreiche Publizistin, „nimm einen Standpunkt ein und mach’ eine klare Aussage. Immer nur zu differenzieren schafft kein erkennbares Profil.“ Ich hatte sie gefragt, wie man Aufmerksamkeit, Reichweite und einen Platz in den Leitmedien bekommt, und das war ihre Antwort.

Also gut.

Dann mache ich mal ein paar klare, undifferenzierte Aussagen: Ich finde den Islam ätzend, und den Koran-verteilenden Fusselbärten in deutschen Fußgängerzonen will ich spontan ihre ausgestreckten Zeigefinger brechen. Genau so wie ich den „Kein Krieg mit Russland“-Putin-Trollen am liebsten eine knallen würde. Alte Menschen, die an der Kasse ihr Kleingeld zählen, nerven mich kolossal, ebenso wie diese Rollstuhlfahrer, die einem extra in die Hacken fahren, um der ganzen Welt böswillige Behindertenfeindlichkeit nachzuweisen. Ich finde Asylbewerber meistens häßlich, hege Folterphantasien gegen Kinderschänder und kann fette Menschen und Raucher nicht leiden. Grölender Pöbel ekelt mich an, ob er türkische oder deutsche Flaggen schwenkt, und viehische Dummheit reizt mich bis aufs Blut. Die arabische Sprache erregt bei mir den Reflex, jedem Sprecher eine aufs Maul zu hauen, einfach wegen dieser beschissenen IS-Bekennervideos, genau, wie mir jede einzelne glutäugige Terroristenvisage ganze Völker unsympathisch macht. Sogenannte „Funktionskleidung“ läßt mich würgen, und wenn ich morgens in der U-Bahn schon Schweiß riechen muß, kommen Amoklauftagträume auf. Gendersprache halte ich für Schwachsinn und politische Korrektheit für einen Todfeind des Humors. Und ja, manchmal sehe ich Frauen ausschließlich unter sexuellen Gesichtspunkten an, weil sie halt scharf sind. Alles ganz spontan und aus dem Bauch raus. 

Klar genug?

Vermutlich. Aber sind das wirklich Meinungen? Vertretbare Standpunkte? Nein. Das sind Triebe, primitive Reflexe meines Stammhirns, das nur Kampf oder Flucht kennt. Und die gibt's halt. Ob wir es wahr haben wollen oder nicht: das Tierische in uns ist zutiefst menschlich. Die spontane Aggression und das tiefe Mißtrauen gegen alles Artfremde steckt in uns und ist Teil unserer Natur. Diese  evolutionär verankerten Reflexe wegleugnen zu wollen, ist Unfug. Noch größerer Unfug ist es jedoch, diese Urinstinkte zur Grundlage einer Meinungsbildung zu machen.

Denn Instinkt ist eben keine Meinung. Zusätzlich zu unserer tierischen Natur besitzen wir eine menschliche Kultur. Anders als das Tier in uns verfügen wir über Mitgefühl, Anstand und ein Gewissen. Man darf wohl also verlangen, unsere Meinungsbildung nicht beim animalischen Reflex enden zu lassen (so wie es im politischen Diskurs und ganz besonders auf Facebook Tag für Tag geschieht). Vielmehr gilt es, dem pauschalisierenden Instinkt unseren differenzierenden Verstand, dem Abwehrreflex unsere kulturellen Überzeugungen und Werte entgegenzusetzen: Würde, Respekt, Gleichberechtigung, Toleranz und Mitgefühl. Ich erwarte also von mir selbst die Differenzierung zwischen meinen Stammhirnreflexen, meiner persönlichen Ästhetik und der Toleranz, die ich aus kultureller und humanistischer Überzeugung jedem Menschen schulde.

Es spielt somit keine Rolle, ob ich persönlich etwa Schwulsein für gut halte – ich akzeptiere es einfach als Lebensentwurf und freue mich über die Freiheit für jeden, so zu leben wie er will. Auch muß ich Asylbewerber nicht plötzlich hübsch finden - ich muß sie respektieren, mit Würde behandeln und ihnen grundsätzlich das gleiche Lebens- und Glücksrecht wie mir selbst zugestehen. Ich möchte Menschen als Individuen wahrnehmen, und nicht als kollektiv verdächtige Mitglieder irgendeiner einer Gruppe. Schon aus meinem Gewissen, aus meiner Empathie und meiner ethisch-moralischen Überzeugung heraus, die das Stammhirn eben nicht kennt, könnte ich also niemals Rassist oder gegen Schwule oder sonst irgendwie radikal sein. Warum auch?

Erst in der Differenzierung liegt für mich der Schlüssel zur Gerechtigkeit; genau diese Differenzierung zwischen meinen eigenen verschiedenen Wahrnehmungs- und Beurteilungsebenen ist für mich die einzig akzeptable, menschliche Art der Meinungsbildung. Und so schreibe ich eben auch.

Ob mich das Reichweite kostet? Klar, wer (wie etwa ein gewisses AfD-Männchen) laut und brutal ans Stammhirn appelliert, wird auf dieser sehr primitiven Wirkungsebene viele Menschen erreichen, denn jeder hat diese Instinkte und kann sie daher verstehen - besonders die schlichteren Gemüter, die ihrem inneren Vieh mental näher sind als dem Kulturmenschen. Wichtig und verantwortungsvoll ist es indes, die spontane Reaktion mittels einer durchdachten, einer menschlichen zu relativieren. Für diese Überzeugung nehme ich gern in Kauf, daß meine Leserschaft ein bißchen kleiner bleibt.

Denn genau das ist mein Standpunkt.


P.S.: Die Publizistin, die mir den obigen Rat gab, argumentiert übrigens gut und unterhaltsam und verdient fraglos ihren Erfolg. Aber so entschlossen wie sie vermag ich selbst eben die meisten Themen nicht zu sehen. Trotzdem danke für den gedanklichen Anstoß!

Mittwoch, 28. September 2016

Was ist so schwer am Deutschsein?

Ein Facebook-Posting

Ein beliebtes Argument dafür, gegen irgendjemanden zu sein, ist immer wieder die angebliche Bedrohung der eigenen Identität. Was man ist und zu allen Zeiten war, wird offenbar als zu schwach empfunden, sich auch neuen Menschen und Impulsen gegenüber zu bewähren. Aber woher kommt dieses Schwächegefühl? Oder anders gefragt: Was ist so schwer am Deutschsein?

Ich persönlich finde Deutschsein super. Zugegeben – ich hatte es einerseits auch leicht, es zu lernen. In meiner Schule gab es vielleicht fünf „Ausländer“, und die waren hier geboren und sprachen ohne Akzent. „Überfremdung“ war (zu Recht) nur ein dummes Naziwort, aber kein aktuelles Thema; über Identitätsverlust hat man sich damals – in den 80ern – allenfalls insoweit Gedanken gemacht als alles „Deutsche“ verpönt und jedes Nationalgefühl politisch verdächtig war. Was das Deutschsein eben andererseits auch wieder schwer gemacht hat. 

Heute sind wir weiter. Deutschland ist seit 25 Jahren wiedervereinigt – ein lässiges, angesehenes Land, weltoffen, pluralistisch, frei und mit einem (spätestens seit dem Sommermärchen) sehr entspannten Verhältnis zu sich selbst und zur eigenen Flagge. Dachte ich zumindest.

Denn mit der Entspanntheit scheint es vorbei zu sein. Wer heute Schwarz-Rot-Gold schwenkt, tut es meist mit bitterem Gesichtsausdruck und bösen Parolen auf den Lippen. Finde ich ätzend – ausgerechnet die Unentspannten, die Engstirnigen und Frustrierten beginnen, das Deutschsein für sich zu vereinnahmen und es nach ihren menschenverachtenden Maßstäben zu definieren. Und das gefällt mir gar nicht, einfach, weil ich nicht möchte, daß das Deutschsein zum dürren Strohhalm all derer verkommt, die sich schwach und unsicher fühlen und mit brutaler Haßrhetorik ihre Versagensängste überschreien. Jene Leute suchen das Deutschsein in einer allgemein verbindlichen Definition, einer kollektiven Wurzel all dessen, was jeder Einzelne daraus macht. Das aber ist unrealistisch, misanthropisch und gefährlich. 

Das Deutschsein, das ich mir wünsche, funktioniert genau umgekehrt: nämlich als individuell gelebte und selbst bestimmte Zutat zum Gesamtbild der reifen und in sich gefestigten Persönlichkeit. Kurz: Deutsch ist, wer deutsch sein will, egal, welche Hautfarbe er hat, an welchem Gott er glaubt oder welchen Menschen er liebt. Deutsch ist heute eine unendliche Vielfalt von Merkmalen und Eigenarten, aus der sich jeder nach Neigung und Belieben aussuchen möge, was er seiner individuellen deutschen Identität hinzufügen oder was er zum Pool vielleicht sogar Neues beitragen möchte. Vorzuschreiben hat das niemand.

Wer sich aber von Neuem, Fremden per se bedroht fühlt, statt sich zu freuen, aus dem reichen Erbe des Deutschseins das weitergeben und vermitteln zu dürfen, was ihm besonders wertvoll und wichtig erscheint, kommt mir schwach und feige vor. Wer in unserer Zeit nicht auf entspannte, weltoffene und auch selbstironische Weise deutsch sein kann, sollte es lieber lassen. Bei Pegida mitzumarschieren ist jedenfalls etwa so deutsch, wie die Kreuzzüge christlich waren.

Mein Deutschsein geht anders und steht auch in Zeiten der Globalisierung und der Migration keine Sekunde in Frage – entspannt, gelassen und ein bißchen selbstironisch. Weil ich mir seiner sicher bin. Weil ich es super finde. Weil’s mir niemand wegnimmt und weil es wirklich ganz einfach ist.

Freitag, 16. September 2016

Freiheit. Langweilig und anstrengend.

Eine Liebeserklärung

Ich sehe mich um in meinem Deutschland 2016. Und ich sehe Menschen in Freiheit. Sie sitzen in Straßencafés, schlendern durch die Fußgängerzonen, kaufen ein, treffen Freunde, plaudern, lachen. Sie gehen ihren Berufen nach, pflegen ihre Hobbies, erziehen ihre Kinder. Sie besuchen Museen, gehen ins Kino, tanzen in Clubs und lesen Zeitungen und Bücher. Es sind Menschen, die nicht hilflos der Willkür von Polizei oder Justiz ausgesetzt sind, Menschen, die gehen können, wohin sie möchten, die ihre Meinung sagen und ihren Lebenspartner auswählen dürfen, die sich einzig und allein nach ihrem Geschmack kleiden und völlig unbehelligt ihr Leben leben, ohne Angst vor Verfolgung und Denunziation. Ich sehe Menschen in Freiheit in meinem Deutschland 2016.

Freiheit. Die große Sehnsucht aller Unfreien. Die unbändige Kraft, die ganze Völker aufstehen läßt gegen Tyrannei und Unterdrückung, Staaten revolutioniert und Menschen zu Höchstleistungen antreibt. Freiheit, dieser glühende Wunsch, für dessen Erfüllung so viele Millionen Menschen Leib und Leben riskieren. Freiheit, der universelle Traum. Ich sehe mich um in meinem Deutschland 2016. Auf der Residenz weht die schwarz-rot-goldene Flagge, für mich ein wunderbares Symbol der Freiheit, beruhigend, vergewissernd... und ich denke: Wir sind frei. Ein freies Land in Wohlstand und Frieden. Welch immenses, unfaßbares Privileg! Welch ein für Milliarden Menschen auf der ganzen Welt geradezu unvorstellbares Glück, das uns seit 70 Jahren zuteil wird.

Und doch - so recht glücklich wirken nicht mehr viele Menschen in diesem freien, friedlichen Deutschland. Die unbeschwerte Freude an der Freiheit, sie scheint aus den Herzen zu schwinden. Die Gesellschaft, so hört und liest man allenthalben, verroht. Die Sprache wird rauher, die Gereiztheit nimmt zu. Man hupt öfter als früher, kommt mir vor, schon bei sekundenlangem Zögern an der grün gewordenen Ampel. Zweimal habe ich heute fremde Menschen auf der Straße im Streit um Nichtigkeiten einander "Halt's Maul!" zurufen hören. In sozialen Netzwerken wird geschimpft, gepöbelt und gepoltert. Wir sind frei. Wir dürfen das. Aber warum wollen wir es überhaupt?

Freiheit? Wie langweilig.

Vielleicht ist Freiheit einfach langweilig. Nichts ist tabu, nichts gilt als eindeutig richtig oder falsch, solange es das Gesetz nicht sanktioniert – und das Gesetz ist ziemlich liberal. Die Gesellschaft funktioniert, hier und da mehr schlecht als recht, aber im Großen und Ganzen sind die Rollen verteilt, die Wege vorgezeichnet und die Machtverhältnisse klar. Die Arbeiter arbeiten, die Manager managen, und den Rest macht der Staat. Veränderungen erfolgen langsam und kontinuierlich, ohne gewaltige Umbrüche, aufgrund wirtschaftlicher Entscheidungen oder im Zuge demokratischer Willensbildung. Kurz: Das Leben läuft. Alltag. So, wie es jetzt ist, könnte es theoretisch immer weitergehen.

Wie erregend wirkt in dieser Beliebigkeit, die alles erlaubt und alles ermöglicht, doch das Absolute! Wie beflügelnd der Gedanke, man könne die Mängel in unserer Gesellschaft nicht durch zähen Diskurs und fade Entwicklung, sondern durch Umsturz beheben, durch einen gewaltigen Schlag, der alles Gültige zertrümmert und etwas Neuem, Reinen Platz schafft. Auf einmal hat man wieder alle Chancen, auf einmal ist man wie berauscht vom Geist der Zeitenwende, von der Größe und Bedeutung dessen, was da geschieht, und das Herdenhaft-Kollektive überlagert jedes Denken. Dabei sein und gewinnen ist das Gebot der Stunde. Unsere Instinkte, die urzeitlichen Triebe unseres Stammhirns, die in unserer zivilisierten Umwelt so fieberhaft ein Ventil gesucht haben, finden im Kampf, in der Erfindung von Feindbildern, der Eroberung und Zerstörung des Bestehenden endlich wieder einen Gegenstand, der sie zittern macht vor Lust und Hoffnung.

Ja, dergleichen ist verlockend. Freiheit mag die Sehnsucht der Unfreien sein, aber sie wird langweilig, wenn man sie hat. In einer apollinisch geordneten Welt brodelt vielmehr die dionysische Lust am Chaos in unseren Seelen. In der Freiheit vermag nur noch das brisante Spiel mit der Unfreiheit zu provozieren.

Freiheit? Wie anstrengend.

Doch halt! Rufen nicht die selbsternannten Revolutionäre unserer Zeit gerade nach "Ordnung"? Das Chaos mag der Antrieb des umstürzlerischen Rausches ein, sein Ziel jedoch ist eine neue Ordnung. Aber eben nicht Ordnung im Sinne der freien Entfaltung des Individuums auf der sicheren Grundlage eines liberalen und sozialen Gemeinwesens, sondern Ordnung im Sinne von Einfachheit und Homogenität.

Denn Freiheit ist nicht nur langweilig, sie ist auch anstrengend. Wo der Staat nicht das gesamte Leben bestimmt und organisiert, ist der mündige Bürger auf sich selbst gestellt. Er muß seinen Lebensweg gestalten, seine Möglichkeiten ausschöpfen, für seinen Alltag sorgen und seine Karriere vorantreiben. Und hier liegt die Crux: Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat setzt auf das Individuum statt auf das Kollektiv und büßt somit an Integrationskraft ein. Vielen Ichs wird die Sehnsucht nach einem Wir nicht ausreichend erfüllt. Im Gegenteil: Wo die Freiheit des einen nur durch die Freiheit des anderen begrenzt wird, verwirklicht sich eine Vielfalt an Lebensentwürfen, die verwirrend ist und manche Menschen ästhetisch oder moralisch überfordert, ebenso wie die Komplexität der daraus erwachsenden Problemstellungen. Freiheit erzeugt Pluralismus, und Pluralismus wird seines Konfliktpotenzials wegen wiederum zur Herausforderung für die Freiheit. Freiheit braucht Bildung und (auch emotionale) Intelligenz, um gelebt und toleriert zu werden. Sie erfordert den Willen, beständig an seiner Wahrnehmung zu arbeiten, sich zu erweitern und für die Freiheit auch dort einzutreten, wo einem ihre spezifische Ausprägung nicht unbedingt gefällt. Wo dies ausbleibt, weil der medialen Verdummung kein soziales Korrektiv entgegenstand, ist Freiheit belastend und kann Streß auslösen.

Die Einfachheit eines klaren, eng umrissenen Weltbildes ist da natürlich sehr verführerisch! All das komplizierte Reden und Analysieren "der da oben", all die Verworrenheit und beängstigende Unüberschaubarkeit der Probleme, jener Gordische Knoten, der durch systematisches, geduldiges Aufdröseln einfach nicht zu lösen scheint, weil vielen längst die Fähigkeit zum komplexen, konstruktiven Denken abhanden gekommen ist, ist gar nicht mehr so bedrohlich, wenn man nur simpel genug darauf antwortet: Man muß ihn einfach zerschlagen, heldenhaft und kraftvoll, mit großer germanischer Geste, und all die künstlichen Wucherungen freiheitlicher Entfaltung werden ersetzt durch eine radikal simplifizierte Ordnung, die man verstehen und überschauen kann, und die nichts weiter erfordert als Anpassung. Freiheit gilt in diesem Denken nicht mehr als Privileg, sondern als Zumutung für die eigene Bequemlichkeit, und Vielfalt ist nichts weiter als eine unerwünschte Penetration des biederen kleinen Weltbildes durch neue Impulse.

Die Sehnsucht nach Autorität als Auswuchs der Freiheit

Und so hat denn die Freiheit selbst ihre Feinde hervorgebracht. Ein Privileg, das eigentlich genossen werden sollte, wird zur Belastung, weil der Umgang mit ihm nicht gelernt, nicht vermittelt, sondern einfach vorausgesetzt wurde – philanthropisch gedacht, aber offenbar lebensfern. Stattdessen wächst die Sehnsucht nach einer Autorität, die die anstrengende Freiheit des Individuums kollektiviert, ordnet und trägt. Wieso haben wir geglaubt, eine so enorme, großartige Aufgabe wie die Freiheit ließe sich dauerhaft bewältigen, ohne von der Pike auf gelernt worden zu sein? Haben wir Freiheit so absolut definiert, daß die Forderung, sich geistig und moralisch für die Freiheit, für die Vielfalt und für die Selbstbestimmung zu rüsten, bereits als Einschränkung eben jener Freiheit betrachtet wurde? Dann birgt unser Freiheitsbegriff ein Paradoxon, das ihn zerbrechen kann. Wenn wir die Freiheit erhalten und vor ihren Feinden schützen wollen, müssen wir neu über sie nachdenken. Wir müssen sie nicht nur als Geschenk, sondern auch als Herausforderung begreifen. Wir dürfen sie nicht nur haben, sondern müssen sie auch verstehen.

Ich sehe mich um in meinem Deutschland 2016. Ich sehe Menschen in Freiheit. Gleichgeschlechtliche Paare, die händchenhaltend über die Straße gehen, halbwüchsige Jungs aller Hautfarben, die verschwitzt und eifrig plappernd vom Fußballspielen kommen, ein deutsches Mädchen, das einem iranischen Mädchen auf dem Spielplatz unsere Sprache beibringt. Menschen aus allen möglichen Ländern, die in diesem Deutschland ihr Glück suchen. Und ihre Freiheit.

Und ich möchte, daß das so bleibt.

Montag, 8. August 2016

Zwei ganz allein

„Du weißt gar nicht, wie ich bin!“ 
sagst Du, während Du eine zweite Maske über die Maske ziehst, die Du schon so lange trägst, und Deine Stimme klingt dumpf drunter. Ich weiß nicht, wie Deine Stimme ohne Masken klingt; das habe ich nur ein-, zweimal gehört, und es ist so lange her, daß ich mich kaum erinnere. Nur daran, daß sie schön war.

„Du siehst mich gar nicht wirklich!“
sagst Du, während Du das Licht ausschaltest, Deine Kapuze weit ins Gesicht ziehst und Dich umdrehst, weg von mir. So bleibt um uns herum nichts als die Dunkelheit, die Du geschaffen hast. Du hast es gern dunkel, um mir meine Blindheit zu beweisen. Aber meine Augen finden Dich, auch wenn Du es nicht siehst.

„Ich bin so allein!“ 
sagst Du, und als ich meine Hand in die Dunkelheit strecke, schlägst Du mit aller Wucht darauf. So machst Du es oft; vier meiner Finger waren schon gebrochen. Nun bricht auch der fünfte. Mehr habe ich nicht. Nächstes Mal werde ich dir nur die Linke hinstrecken können. Die ist fast so stark wie die Rechte.

„Wer mich liebt, kennt meine Fragen!“ 
sagst Du, aber immer, wenn ich Luft hole, um zu antworten, hältst Du Dir die Ohren zu und singst ein Lied von Einsamkeit. Ich spreche trotzdem, aber Du kannst mich nicht hören. Denn Du magst Fragen lieber als Antworten. Du magst Hindernisse lieber als Möglichkeiten. Sie lassen Dich traurig und stark und ganz allein sein.

„Nur wenige kennen mich!“ 
sagst Du und meinst damit Deine richtigen Freunde. Die Dir sagen, wie großartig Du bist. Dann fühlst Du Dich geliebt. Mich zählst Du nicht dazu, denn ich sage zu oft, wo Du noch großartiger sein könntest. Und dann fühlst Du Dich angegriffen, unverstanden. Nicht geliebt, nicht erkannt genug. Sofort ziehst Du die Maske an, schaltest das Licht aus und schlägst auf meine Hand.

„Ich bin da!“
sage ich. Denn ich höre Deine schöne Stimme durch die unbewegte Maske, sehe Deine Schönheit im Dunkeln und fürchte nicht den Schmerz Deiner Schläge, weil ich stark sein kann für Dich. Ich antworte Deinen tauben Ohren und ich widerspreche Dir. Ich bin immer da, auch wenn Du mich fortschickst. Denn so geht Liebe.

Dienstag, 26. Juli 2016

Auflösung

Der Meister läßt auf sich warten. Zuweilen tut er das, denn er erzeugt gern Spannung, vielleicht sogar Unsicherheit unter seinen Schülern, was nun ihre Aufgabe, was genau die Herausforderung sein wird, der sie sich heute zu stellen haben in seiner Klasse für fortgeschrittene Bildhauerei. Es gab sogar schon Stunden, zu denen er gar nicht erschien. Einmal hat er nur ein Buch auf dem Tisch liegen lassen, aus dem ein paar Seiten herausgerissen, andere uneindeutig markiert waren, und erst nach langem Hin und Her, wildem Blättern und angeregten Diskussionen, die freilich nicht abliefen, ohne daß ganz grundsätzliche Fragen berührt und manch heftiger Streit geführt wurde, vermochten die Kursteilnehmer schließlich, sich auf irgendeine Vorgabe, irgendein Thema einigen, das der Meister wohl im Sinn gehabt haben müsse und an dem sich der künstlerische Eifer der Nachwuchsskulpteure nun abzuarbeiten habe. Ein anderes Mal hatte der Meister seinen Lieblingsschüler angerufen und ihm aufgetragen: „Sag den anderen, heute sollen sie die Liebe darstellen!“ Mehr nicht. Und so bleibt ungewiß, ob er heute erscheinen wird mit seinem langen, weißen Bart und seiner ganz speziellen Art, seine eindringlichen Reden mit entschlossenen Gesten der rechten Hand zu bekräftigen, die Finger leicht gekrümmt und alle gespreizt mit Ausnahme von Ring- und Mittelfinger, die immer, wirklich immer eng aneinandergelegt bleiben. Doch bald schon öffnet sich die Tür, und alle Zweifel sind dahin. Der Meister ist da.

„Heute“, beginnt er grußlos und zerhackt mit der rechten Hand die Luft, die Finger leicht gespreizt außer Ring- und Mittelfinger, die unzertrennlich aneinanderliegen, „erschaffen wir das Leben! Jeder sein ganz eigenes, so wie ihr es euch vorstellt. Sucht euch das passende Material und legt los!“ Nachfragen gibt es nicht; man weiß schon, daß der Meister sie ohnedies nicht beantwortet. „Seht euch meine 'Welt' an, da findet ihr alle Vorgaben!“ sagt er immer. 'Die Welt', das ist sein Meisterwerk, das ihn einst berühmt gemacht hat, sein Maßstab, sein Vermächtnis. Die wenigen kritischen Stimmen, die gelegentlich auf die Schwächen des Werkes hinweisen, werden mit der umfassenden Behauptung zum Verstummen gebracht, das sei genau so gewollt, was das Werk schließlich noch genialer erscheinen läßt.

Die Schüler sind vorbereitet. Sorgfältig haben sie ihr Werkzeug zurechtgelegt, Werkzeug recht unterschiedlicher Qualität übrigens, das sie teuer erworben oder mühelos geerbt haben. Man sieht Meißel in allen Größen, Hämmer verschiedener Schlagkraft, feine oder grobe Sägen, Spachtel, Schnitzmesser oder die bloßen Hände – jeder nutzt, was er hat. Nun kommt Bewegung in die Klasse. Alles drängt und strebt zu den Materialien hin, den Stoffen, aus denen sie ihre Skulptur, ihr 'Leben' gestalten wollen. Einer greift etwa nach einem Klumpen Ton; viel ist nicht da – er wird seine Skulptur hohl ausführen müssen. Vielleicht vergoldet er sie nachher noch, damit sie beeindruckender wirkt. Eine nimmt sich den dicken Baumstumpf; sie möchte es wohl natürlich haben. Wieder ein anderer wählt einen Block aus schwerem, schwarzen Granit; er möchte etwas Solides schaffen, das etwas darstellt, wie er sagt. Ein paar schweißen Stahlteile zusammen, die ihnen gefallen, und einige verwenden gar Müll in mehr oder minder kunstvoller Anordnung. Einem fällt gar nichts ein; er entscheidet sich, einen Abguß einer bereits vorhandenen Skulptur anzufertigen. Und so beginnen sie alle. 

* * * 

Ich selbst wähle mir den Marmor als Material, denn ich möchte mein 'Leben' klassisch schön gestalten, mit jenen verwegenen Stilbrüchen zwar, die ich so mag, und voller Spannung, aber eben doch geordnet, geschaffen nach den Idealen einer antiken, ewig gültigen Ästhetik, weiß, rein, vollkommen. Das Werkzeug liegt bereit; ich hatte das Glück, eine besonders hochwertige Ausstattung zu erben von meinem Großvater und auch meinem Vater. Ich habe sie gereinigt, geschärft, ergänzt und bin bestens vorbereitet. Also beginne ich. Die Ideen, was zum Leben, zu meinem, gehört, kommen mir schneller als ich meißeln kann – das Schöne, das Bewährte, das Neue und das Gute, Kopf und Herz und Hand; ich habe das fertige Werk im Kopf, alle Einzelheiten erdacht und in perfekter Harmonie angeordnet, aufeinander abgestimmt und ins richtige Verhältnis zueinander gesetzt. Die Form, die erzählende Gestalt, die ich im Kurs letzte Woche meiner 'Liebe' gegeben habe, möchte ich einarbeiten in mein 'Leben', ja zum zentralen, sinngebenden Element der Skulptur möchte ich sie erheben, alles zusammenhaltend, umfassend, durchdringend und prägend. Verstand, ja, den braucht es auch. Eine Berufung, eine Leidenschaft. Träume, Hoffnungen, Wünsche, Ängste. Glauben, Güte. All das schwebt mir vor Augen, und ungeduldig mit pochendem Herzen meißele ich alles weg, was nicht dazugehört, quälend langsam, weil das Werk in meinem Kopf viel schneller reift und wächst als meine Hände es vollenden können. Hell scheint die Sonne durch die großen Atelierfenster, und je deutlicher sich mein Bild vom Leben aus dem weißen Stein erhebt, desto mehr füllt sich das Material mit der Wärme des Sonnenlichts. Nicht einfach nur umfassend, nicht durchdringend gelingt mir die Liebe, sondern hineinfließend in alle anderen Bilder des Lebens und diese gleichsam hervorbringend. Ich bin erregt und glücklich darüber, wie gut es läuft, und immer noch wärmt mich die Sonne. Alles um mich herum füllt sich mit weißem Licht, in dem die anderen Kursteilnehmer versinken und ihr Hämmern und Sägen verstummt, und wie im Rausch allumfassender Erkenntnis vollende ich mein Werk. Ein letzter Schliff, ein prüfender Blick, und es ist fertig – schön, harmonisch, ein Traum in Form und Ausdruck, mein Ideal des liebenden, geordneten Lebens. Und wie ich gerade weich und wohlig im Glück dieses Anblicks versinken will, zieht sich die Sonne eine Wolke vors Gesicht, und der raumlose Glanz um mich herum wird schattig und kühl. Dann zerreißt ein lautes Knacken die Stille, und ein Sprung geht durch mein 'Leben', mitten durch die Liebe, die es durchfließt und formt. Mein Herz setzt aus; kaltes Grauen lähmt mein Begreifen, und ehe ich erfasse, was soeben geschah, kehrt das Licht zurück. Doch der Schaden ist entstanden.

Und dann beginnt es: Ein feines Blättchen Marmor hebt sich vom festen Stein, wie ein Stück abblätternde Farbe, wölbt sich, reißt an den Rändern ein und wird größer; wie von einem Wind erfaßt, den ich nicht spüre, nicht höre, löst es sich ab und schwebt federleicht davon ins weiße Licht. Und während es meinem Blick entschwindet, beginnt ein weiteres Stück, sich von der glatten Oberfläche meiner Skulptur zu lösen, reißt ein, trennt sich ab und taumelt schwerelos empor. Und dort noch eins. Da zwei. An anderer Stelle ein ganzes Feld. Überwältigt von der entsetzlichen Schönheit des Geschehens schaue ich zu, wie mit einemmal zahllose Blättchen, hauchfeine Fetzchen der Oberfläche auf dem ganzen Werk wie ein Daunenfederkleid im Sturm flattern und rauschen, sich ablösen und in einem dichten Schwarm emporwirbeln, um im weißen Licht dem hilflosen Blick zu entschwinden. Der stumme Wind schwillt an, ohne daß ich weiß, woher er kommt, und mehr und mehr Stückchen werden davongeweht. Wie tausend weiße Schmetterlinge, die eben noch eine glatte Fläche, eine feste Form gebildet haben, verfliegt meine ganze Skulptur und löst sich auf und ist dahin. Das letzte Fetzchen verliert sich im weißen Licht, und nichts bleibt zurück als gleißende Leere. Mein 'Leben' hat sich aufgelöst, gerade als es vollkommen schien.

Nur langsam löst sich der Bann. Langsam, ganz langsam taucht aus dem weißen Licht der Raum um mich herum wieder auf, die Schüler, ihre Werke und der Meister, der durch die Reihen geht, um zu schauen, zu begutachten, was sie zustande gebracht haben, welche Bilder, welche Formen und Inhalte sie ihrem 'Leben' gaben. Er schmunzelt hier, zieht dort die Brauen zusammen, hebt sie erstaunt oder rollt vielsagend die Augen. Als er bei mir ankommt, blickt er mich fragend an. „Gar nichts?“ sagt er. „Nicht einmal eine Oberflächlichkeit wie das hohle, goldene Tonbild dort? Keine angeberische Monströsität wie das Granitgebilde da drüben? Oder jenes hölzerne Naturspektakel, das ganz offenbar meine schöpferische Nähe sucht und doch nur Gestus bleibt? Und Sie? Das beste Werkzeug, das größte Talent des ganzen Kurses, und dann so gar nichts?“

Er klingt enttäuscht, bitter enttäuscht, und ehe ich, noch ganz verwirrt wie gerade erst aus einem schrecklichen Traum erwacht, eine Antwort ersinnen kann, ist der Meister weitergezogen.

Montag, 30. Mai 2016

Mein Versuch...

...mir die ganze Gauland-Geschichte klarzumachen, die seit vorgestern so hohe Wellen in Medien und sozialen Netzwerken schlägt: Nehmen wir an, Alexander Gauland hat wirklich gesagt, was zitiert wird. Dann ist darin nicht zwingend eine rassistisch motivierte Äußerung zu sehen, sondern lediglich eine Beobachtung jenes Alltagsrassismus in Deutschland, der in der Annahme, viele wollten keinen Schwarzen als Nachbarn (denn Boateng war hier gewiß nicht als berühmter Fußballer gemeint, sondern als Vertreter seiner "Rasse", an dem die verlogene Bigotterie vieler Deutscher zwischen Bewunderung und Ablehnung besonders deutlich wird) ja nicht zu widerlegen ist. Insoweit vermag ich mich der allgemeinen Empörung noch nicht anzuschließen.

Nun wäre Gauland aber nicht Gauland, wenn er sich plötzlich als scharfer Kritiker rassischer Vorbehalte gerierte. Bei der Interpretation seiner Aussage darf und sollte man also genauer hinschauen. Denn was sagt er eigentlich? Oder besser: mit welcher Implikation sagt er es? Hätte ich den zitierten Satz von mir gegeben, oder einer meiner publizierenden Freunde, dann wäre er wohl als jene Beobachtung unverdächtig gewesen, die ich oben beschrieben habe.

Bei Gauland jedoch spielt eine weitere Ebene hinein: Er sieht sich und seine Partei als Stimme des (noch) mehrheitlich schweigenden Volkes. Wenn er behauptet, "die Leute" fänden Boateng als Fußballer gut, wollten "einen Boateng", also nicht ihn, sondern jemanden wie ihn, nicht als Nachbarn, wird damit ein Volkswille heraufbeschworen, der bei Gauland eben nicht die Konsequenz zeitigt, Weltoffenheit, Toleranz und friedliches Miteinander zu fördern und rassistischen Tendenzen entgegenzutreten, sondern eben jenen vermeintlichen Volkswillen endlich zu respektieren und eine entsprechend rigide Flüchtlings- und Einwanderungspolitik zu betreiben. Darin liegt seine subtile Agitation, sein versteckter Rassismus, und allein das kann und sollte Gegenstand der Empörung sein. 

Gauland ist geschickt. Er weiß um die komplexen Wirkmechanismen des gut gewählten Wortes, und so hält es auch die AfD als solche: haarscharf an der Grenze, so daß genug Interpretationsspielraum bleibt, sich herauszureden und eine weiße Weste zu behalten, und dennoch eine unterschwellig fatale Wirkung in den schlichteren Köpfen in Gang zu setzen. Wer kann, sollte tiefer blicken. Denn auf dieses manipulative Spiel hereinzufallen und die berechtigte weltanschauliche Empörung über die Axiome der AfD an jedem Stöckchen auszulassen, das ihre Gaulands und Höckes der Medienlandschaft hinhalten, um diese anschließend als hysterisch, voreilig und dumm vorzuführen, weil man es ja ganz anders gemeint habe, ist grundfalsch und nützt letztlich der Sache, die man zu bekämpfen versucht.

Dienstag, 3. Mai 2016

Das Kamel

Ein Wüstentod

Heiß und trügerisch flimmerte die Luft über dem staubigen Wüstenboden, über den sich mit letzter Kraft ein ausgetrockneter Mann dahinschleppte. Jeder Atemzug schmerzte, als führe ihm eine glühend-scharfe Klinge durch die Nase bis in die Stirn hinauf. Seine Füße brannten; die glitzernden, versandeten Blasen, die er sich gelaufen hatte, peitschten mit jedem Schritt quälende Schmerzen in seine Schienbeine, und die erbarmungslose Sonne versengte ihm vom gelblich-blauen Himmel herab den Nacken. Den Gedanken an Wasser oder einfach nur an ein Wandern ohne Schmerzen hatte sein kochendes Hirn längst verlernt. Allenfalls eine staubige, blasse Erinnerung daran, daß es Leben und Landschaften, Seen, Felder und Bäume außerhalb der Wüste gab, in der er schon so lange wanderte, stieg zuweilen in ihm auf wie ein trockener Husten.

Kaum konnte er noch aus den brennenden Augen schauen, als er in der Ferne eine Bewegung zu erkennen glaubte. Tatsächlich, da ging ein Kamel. Nur ein paar hundert Meter weit entfernt lief es gemächlich in die gleiche Richtung wie er. Und da war noch etwas. Weiter weg, am Horizont, genau oberhalb des Kamels ging auf einer Anhöhe eine Frau. Fast sah es aus, als verschmölzen beide Gestalten, ja als ritte eine winzigkleine Frau auf einem riesigen Kamel. In Wirklichkeit, dachte der Mann dumpf, müsse sie wohl etwa genausoweit von dem Kamel entfernt sein wie er. Nur auf der anderen Seite. Doch verließ ihn dieser Gedanke sogleich für einen stärkeren: Reiten, dachte er, nur ein kleines Stück sich tragen lassen, vielleicht sogar zu einer Siedlung, einer Oase... oder wenigstens einer Höhle zum Sterben. Ein wenig nur die Füße schonen. Auf dem Kamel sitzen, nur für ein paar Meilen. Oder für immer.

Er versuchte zu rufen. Aber seiner Kehle entrang sich nur mehr ein Krächzen. Sofort änderte das Kamel seine Richtung und lief auf den Mann zu, der sein Glück nicht fassen konnte. Eine Woge von Kraft und Zuversicht durchflutete und berauschte ihn, die alle Erschöpfung vergessen machte, und als das Kamel bei ihm ankam und sich bereitwillig niederließ, wollte er schon aufsteigen. Doch das Bild der winzigen Frau auf dem riesigen Kamel schob sich in seine Gedanken. Sie und das Kamel gehörten zusammen! Wenn er es nun zu sich gerufen hatte, dann doch nur, um es ihr zu schicken, es ihr zu schenken und gemeinsam weiterzureisen. Nein, er konnte nicht alleine reiten. Wie hatte er das je glauben können? „Geh“, sagte er heiser, „und hol sie. Laß sie reiten. Zu mir.“ Und das Kamel stand auf und lief behende über den heißen Wüstenboden in Richtung der Frau.

Von Ferne sah er, wie es bei ihr ankam. Es schien ihm, als lächelte sie kurz, und auch er lächelte, so glücklich machte ihn diese Begegnung in der Wüste. Doch dann erstarb ihr Lächeln; er konnte es spüren. Ihr Blick wurde streng und hochmütig, und er sah, wie sie das Kamel fortschickte. Zurück zu ihm. Zurück in den Staub. Und treu und geduldig lief das Kamel zurück.

„Nein“, rief er trocken, „nicht zu mir! Zu ihr gehörst du! Komm, wir gehen gemeinsam!“ Und als er die Frau von Ferne wieder lächeln und winken sah, führte er das Kamel in ihre Richtung zurück, Schritt für Schritt, und aller Schmerz wich von ihm. Die Füße trugen ihn sicher, und das Atmen der heißen Luft fiel ihm plötzlich leicht.

Sie kamen der Frau immer näher, und mit jedem Schritt wurde ihr Lächeln ein wenig starrer. "Schau doch", sagte er zu ihr, "du kannst mit mir reiten! Sicher und bequem, fort aus dieser Wüste!" Doch als er ihr das Kamel übergeben wollte, huschte ein Ausdruck von Angst durch ihre Augen, der sofort kalter Ablehnung wich, und abermals erstarb ihr Lächeln. „Verschwinde!“ rief sie. „Ich will nicht mit dir reiten. Nimm dein blödes Kamel und such dir eine andere Reisebegleitung!“ Und mit dem Fuß trat sie ihm eine Wolke heißen Staubs ins Gesicht. Mehr als der Staub aber brannte die Verachtung, die er von ihr erfuhr, und eine verzweifelte Ratlosigkeit, was er wohl falsch gemacht hatte, ergriff sein Herz. Doch er ging, wie ihm geheißen.

Nach ein paar hundert Metern drehte er sich um und sah – er rieb sich die Augen – ja, wirklich, er sah, wie sie einen anderen Mann auf dem Rücken trug. Sie lachte künstlich. Vielleicht glaubte sie, zu reiten, vielleicht dachte sie auch nur, für ihn müsse es aus der Ferne in der flimmernden Luft, die alle Wesen verschmelzen läßt, so aussehen… aber tatsächlich war sie es, die sich reiten ließ, von jenem anderen Mann, der ihr kein Kamel anbot, sondern sie wie eins benutzte, mitten in der heißen Wüste. Und sie lachte dabei und schaute spöttisch zu ihm herüber. Wut und Trauer stiegen in ihm auf, und hätte er noch weinen können, wären ihm gewiß die Tränen gekommen. Aber es war zu heiß, zu tot, zu trocken in ihm. Und so wandte er sich ab.

„Hallo!“ hörte er sie hinter sich rufen und drehte sich um. Der andere Mann war weg. Hatte es ihn je gegeben? Die Frau lächelte wieder, aber diesmal schwach und traurig. „Hallo!“ rief sie wieder. Und Mitleid und Liebe ergriffen sein Herz. Er schwang sich auf das Kamel, diesmal ganz sicher, endgültig zu ihr zu finden, und ritt auf sie zu. Doch abermals wurde ihr Lächeln härter und kälter, je näher er ihr kam, und als er fast bei ihr angelangt war, begann sie ihn anzuschreien: „Ich sagte doch, ich werde nicht mit dir reiten! Hau endlich ab und hör auf, mich zu belästigen!“ Und mit einem kleinen Messer stach sie dem Kamel in die Seite, ins Bein und in den Hals und verletzte es in ihrer blinden Wut sehr schwer. Fassungslos und voller Entsetzen und Ekel drehte der Mann das Kamel herum und trieb es zur Flucht an, weg, nur weg von dieser Frau, ihrer Unberechenbarkeit, ihrem Undank, ihren dummen Launen und ihren anderen Gestalten.

Das Kamel hinkte. Eine tiefe Wunde klaffte an seiner Seite, und heißes Blut tropfte auf den Wüstenboden. Immer noch flimmerte die Luft vor sengender Hitze, die Sonne brannte, und das Atmen fiel dem Mann schwer wie nie. Die Wüste hatte nun den Höhepunkt ihrer glühenden, höllischen Grausamkeit erreicht. Und als ihm eben die Sinne vergehen wollten vor Durst, Schmerz und Trauer, glaubte er, in der Ferne eine Stimme zu hören.

„Hallo!“ rief die Frau leise. Er wandte sich um, und in diesem Moment knickte das verletzte Kamel ein. „Nein“, krächzte er, „nein“… und wollte weiterreiten, doch das Kamel war am Ende seiner Kräfte. „Ich tue dir nichts“, sagte die Frau, „ich weiß, ich war gemein, aber jetzt will ich gern mit dir reiten! Ich wollte es doch im Grunde immer schon. So gern... aber weißt du, Kamele sind groß, mächtig und stark. Eins von ihnen hat mir mal sehr wehgetan. Daher fürchte ich sie und schickte deins immer wieder fort.“ Und sie stolperte auf den Mann und das Kamel zu, das nun zusammengesunken am Wüstenboden lag. Den Mann aber überwältigte in diesem Moment ein berauschendes Bild von kristallklarem Wasser in einem glitzernden See, an dessen Ufern die saftigsten Früchte wuchsen. Die fruchtbaren Felder trugen satte Ernte, und im warmen Sonnenschein kitzelte ein duftender Windhauch die Nasen der Menschen. Alles Glück schien wahr, jeder Traum erfüllt an diesem Ort, und Schmerz und Leid waren vergessen. Und mittendrin sah er sich und die Frau stark, schön und strahlend auf dem Kamel zu ihrem Haus am See reiten, das weiß in der Sonne leuchtete. „Ja“, hauchte er mit letzter Stimme, „reiten wir. Zusammen. Siehst du auch… da… unser Haus. Den See. Die grünen Bäume… reiten wir ins Glück…“ „Ja, ins Glück“, antwortete sie und setzte sich zu ihm auf das Kamel, gerade über die klaffende Wunde. Das Tier schrie vor Schmerz auf, dann krachte sein Kopf auf den Wüstensand, und seine dunklen, treuen Augen wurden glasig. Es war tot.

„Wir reiten“ … „für immer“ … „zusammen“ … „ins Glück“ Solche Fetzen stammelnd lagen der Mann und die Frau auf dem toten Kamel, beide mit dem berauschenden Bild im Kopf vom glitzernden See, dem weiß leuchtenden Haus, den grünen Bäumen und den satten Feldern. Bis die sengende Sonne auch ihnen das Leben ausgebrannt hatte und sie dem heißen Wüstenstaub überließ.

Montag, 4. April 2016

Gedankengebäude

Gedanken beim Vorbeischlendern am ehemaligen "Führerbau" in der Münchner Arcisstraße 12.

Die Insignien der alten Ideen haben wir vorsorglich abgenommen von unserem Gedankengebäude. Es ist uns unangenehm genug, diese Ideen je beherbergt, gedacht, gelebt zu haben und sie mit dem Hoheitszeichen der Macht sichtbar und offiziell zum einzig legitimen, alles beherrschenden Interieur unseres Gedankengebäudes erhoben zu haben. Ein dummer Fehler. Schnell fort also mit dem Symbol, das einst die Fassade zierte.

Das Gedankengebäude bleibt freilich stehen. Was man hat, das hat man. Und so schlecht sah es ja nicht aus.  Die alten Ideen... naja. Die haben wir eben versteckt. In Wandschränken, in Abstellkammern, im Keller. Ein paar haben wir im Garten vergraben. Schließlich haben wir die großen, noch intakten Räume ganz schnell mit neuen Ideen gefüllt.

So ganz wollten sie freilich nie in unser Gedankengebäude passen, die neuen Ideen. Die Architektur war nun einmal nicht für sie gemacht. Man hätte vielleicht nicht nur die Hoheitszeichen der alten Ideen entfernen, sondern das ganze Gedankengebäude abreißen und ein neues errichten sollen, ein helles und offenes, in das die neuen Ideen gepaßt hätten! Haben wir aber nicht gemacht. Und so wirkten die neuen Ideen im alten Gebäude immer etwas fremd. Und verstaubten.

Also auf die Fenster! Frischer Wind soll wehen, und mit ihm die Stimmen, die draußen immer lauter werden. Und plötzlich fliegen die Wandschränke auf, die Abstellkammern, der Keller sogar! Und im Staub wirbeln die alten Ideen aufs neue hervor, mischen sich  ein bißchen mit den neuen, aber nicht viel, flattern hoch und uneinholbar durch unser Gedankengebäude... gerade so, als seien sie endlich wieder im Recht, endlich wieder da, wo sie immer hingehörten. Weg waren sie ja nie. Wir hatten sie nur versteckt.

Es braucht eben keine Hoheitszeichen, um ein Gedankengebäude plötzlich wieder von alten Ideen besetzt zu finden. Das Abmontieren der Insignien reicht nicht aus; es schützt uns nicht vor dem alten Ungeist. Halten wir unser Gedankengebäude also sauber - gerade, wenn es draußen stürmt. Denn darauf kommt's an.

Freitag, 11. März 2016

Personenschaden

Zu viel, zu schwer. Nicht mehr zu tragen, die Bürde dieses Lebens. Die unendliche Macht der Ohnmacht, erdrückend, zerquälend das letzte Bißchen Seele, das sich noch regt in der Brust. Bleischwer das Herz, tränenverklumpt die stumme Kehle, Nacht für Nacht, Tag für Tag.

Stimmen wie durch Watte, grobes Lachen, stumpfes Tagwerk, gespielte Freundschaften... Kein Sonnenstrahl dringt mehr ins Herz, kein Lächeln durchbohrt den Schleier in den Augen. Nur Traurigkeit, Einsamkeit, namenlose Verzweiflung. Unverstanden allein inmitten von Menschen - längst weit entrückt dem, was sie "Leben" nennen. Tot, lange schon. Doch ohne die erlösende Ruhe, den kühlen Frieden, die dunkle, stille Freiheit.

Nur ein kleiner Schritt dorthin. Eine kalte, summende Schiene ins ewige Nichts. Anziehend. Unwiderstehlich reizvoll. Bereit zum Abschied, bereit zum Loslassen von Menschen, Gewohnheiten, Sachen und Sorgen. Kein Name, kein Körper, kein Gesicht. Loslassen das Leben, das wuchs, hoffte, träumte, strebte, versagte und irgendwann, wann genau?, ohne Mut war, ohne Lachen, ohne Ziel. 

Kalt liegt die Schiene am Hals, in dem die Tränen klumpen, die Schiene ins Nichts, deren Summen lauter wird, anschwillt zu einem Rauschen, einem Dröhnen. Ein letztes, lautes, lebendiges Weltgeräusch! 

Dann wird es still.

"Wegen eines Personenschadens ist unser Zug auf unbestimmte Zeit zu einem außerplanmäßigen Halt gekommen!" sagt der Schaffner.
"Das darf doch nicht wahr sein!" schimpft ein Fahrgast, "Verdammte Scheiße!" Dann ruft er seine Frau an.

Sonntag, 21. Februar 2016

Noch'n Bekenntnis

Ich gebe es zu: Auch ich bin ein besorgter Bürger. Wie könnte ich nicht besorgt sein? Die Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge stellt uns vor ungeheure, beispiellose Herausforderungen, und auch der wohlgesonnenste Beobachter wird einräumen, daß nicht alle, die zu uns kommen, liebe, nette und dankbare Menschen sind.

Die kulturellen Unterschiede sind zum Teil enorm, das Verständnis von Gesellschaft, Freiheit und sozialem Miteinander unterscheidet sich oft sehr von dem, was uns hierzulande "normal" und wünschenswert erscheint. Erscheint, wohlgemerkt, denn der bittere Haß der rechten Stimmungsmacher, die landauf, landab nicht einzelne Menschen, sondern ganze Gruppen, Ethnien und Religionen unter den Verdacht übelster Absichten stellen und eine allgemeine Bedrohung, eine kollektive Gefahr beschwören, nur um damit ebenso kollektive Gemütsregungen auszulösen, ist auch nicht eben Ausdruck abendländischer Kultur. Manche kommen elitär und intellektuell daher (oder was sie eben dafür halten) und lassen allem gedrechselten Geschwätz zum Trotz doch jede Weisheit vermissen. Manche grölen dumm und tierisch drein und sind mit dieser Stammhirnobergrenze nicht minder archaisch als die in mittelalterlichen Wahnvorstellungen von Ehrenmord und Frauenunterwerfung befangenen Exemplare unter den Neuankömmlingen.

Ja, all das besorgt mich. Als Bürger und Bewohner dieses Landes, das ich liebe. Es besorgt mich, wie sich der Ton verschärft, wie die Sitten verrohen, wie die Bereitschaft zur Gewalt wächst und Andersdenkende sogar von "guten Christenmenschen" gehaßt, beleidigt und verunglimpft werden. Es besorgt mich, wie ein unumkehrbar geglaubtes Wertesystem zu erodieren beginnt unter den ätzenden Einflüssen niederster Instinkte, die nur Kampf und Flucht, nicht aber Gespräch und Verständigung kennen. Es besorgt mich, in einem Europa zu leben, das seine moralische Überlegenheit nicht stark und unbeirrbar behauptet, sondern einem unmoralischen politischen und oft genug auch schlicht wirtschaftlichen Kalkül opfert. 

Und auch die Weltlage besorgt mich. Ein böser Zwerg im Kreml, der so leer, so bitter und so unglücklich ist, daß nur die Bedrohung anderer Länder, die Ermordnung von Gegnern, die Unterdrückung von Kritik und das unbedingte Streben nach Macht seinem kümmerlichen Wesen Bestätigung und (vielleicht) ein bißchen Befriedigung verschafft... und den selbst im freien, wohlständigen Deutschland als Erlöserfigur zu verehren sich manche nicht entblöden. Ein verbrecherisches Menschenzerrbild in Syrien, das sein eigenes wunderschönes Land zerbombt, sein eigenes kultiviertes Volk ermordet, nur um weiter herrschen zu können, worüber eigentlich?, über ein Ruinenfeld, einen Massenfriedhof...

Macht. Welch erbärmliche, herzensdumme Triebfeder für irgendein Tun. Geltung. Überlegenheit. Stärke. Wie abstoßend, wie niedrig. Wie wertlos als Maßstab für die Güte eines Menschen. Und doch Motivation aller Missetäter: Vom grölenden Pack vor einem Reisebus auf einer kalten Dorfstraße über den schamlosen Provinzpolitiker, der im Blitzlichtgewitter in Verbrecherärsche kriecht, bis zum selbstbesessenen Herrscher in seinem goldenen Palast - sie alle verbindet das Gefühl der tiefen Minderwertigkeit. 

Denn Haß ist immer ein Produkt von Minderwertigkeitsgefühlen. Vielleicht liegt in diesem Gedanken ja ein Ansatz zur Verbesserung. Das würde meine Besorgnis lindern. Als deutscher Bürger.

Samstag, 13. Februar 2016

Verschwommene Bilder

Bilder verschwimmen. Bilder im Kopf. Was uns einst scharf und leuchtend vor dem geistigen Auge stand, wird mit der Zeit trüb und blaß. Ist es ein Nachlassen der inneren Sehkraft, die, von Gewohnheit abgenutzt, immer schwächer wird? Oder ist es das tatsächliche Verfliegen ehemals klarer Vorstellungen, die dem Sturm des Lebens einfach nicht standzuhalten vermochten?

Diese Gedanken kommen mir, während ich im Weissen Brauhaus sitze, geflohen vor einem dummen Streit und traurig darüber, daß der Samstag nun einen so ganz anderen Verlauf nimmt als gedacht. Unterdessen wird mir der Salat gebracht. Ich erkenne rote Beete. Ich mag rote Beete nicht.

Mal ehrlich: Wir glauben so scharf zu sehen, Menschen, Dinge, Situationen und Perspektiven so klar zu erkennen, daß wir uns freudig darauf einlassen und meinen, alles müsse so bleiben, wie unser geistiges Auge es vor sich sah. Und plötzlich wird alles zum Nebel, verschwimmt, verzerrt sich bis zur Entstellung, und wir müssen das geistige Auge ganz schön zusammenkneifen, um zu ahnen, welches unserer schönen, bequemen Bilder das mal war. 

Traurig nehme ich die erste Gabel Salat. Rote Beete gelangt in meinen Mund. Mist. Um die wollte ich doch herumessen.

Unser geistiges Auge also... Doch halt!

Die rote Beete schmeckt ja gut! Ihr Bild in meinem Kopf war die ganze Zeit klar. Aber ich... ich scheine mich verändert zu haben. Denn meinem klaren Bild vom ungeliebten Geschmack entspricht das Gemüse einfach nicht mehr. So wie ich selbst vielleicht nicht mehr dem Bild entspreche, das ich selbst von mir habe.

Ich denke nach. Ja, vielleicht verschwimmen Bilder im Kopf. Vielleicht verklären sich Vorstellungen, und Erwartungen nutzen sich in der rauhen Lebenswirklichkeit ab. Vielleicht aber liegt das nicht immer am Wandel der Welt, sondern an uns. Ohne es zu merken, ohne Bilder und Erwartungen in Frage zu stellen, verändern wir uns und messen doch alles, was geschieht oder unterbleibt, nur an unseren starren Vorstellungen. Wo längst ein neues, scharfes leuchtendes Bild an die Stelle des verschwommenen treten und ganz neue Perspektiven eröffnen könnte, ver(sch)wenden wir all unsere Kraft und Zeit darauf, mit zusammengekniffenem geistigen Auge unbedingt das erkennen zu wollen, was uns vertraut schien. Wie töricht! Wie dumm auch, einen Streit um Bilder zu führen.

Ich esse meinen Salat auf - mit der roten Beete, die mir (nicht zum ersten Mal) geholfen hat zu erkennen. Und auf einmal ist dieser Samstag gar nicht mehr so traurig.

Mittwoch, 6. Januar 2016

Neu

Angesichts der allgegenwärtig sich Ausdruck gebenden Silvester- und Neujahrsstimmung habe ich mich in den letzten Tagen oft gefragt, warum Menschen eigentlich so versessen auf Neues sind, und darauf, ihr Leben, ja sich selbst zu erneuern. Es scheint, als sei "neu" nachgerade ein Synonym für "besser". Aber sind wir wirklich so unzufrieden mit uns selbst, daß wir ständig Veränderungen erträumen?

Abgesehen davon, daß es mich Jahr für Jahr irritiert, warum die Hoffnung auf Neues, die Vorsätze, etwas zu ändern und die Erwartung einer gleichsam magischen Lebenswende an ein einziges Datum geknüpft werden, als könne und solle man sich nicht jeden Tag des Jahres darum bemühen, daß das Leben so ist, wie man es gern hätte... abgesehen davon also frage ich mich, warum dafür immer alles neu sein muß? Warum das Bedürfnis, sich allsilvesterabendlich neu erfinden zu wollen im Glauben, man könne alles Unliebsame zurücklassen, wenn nur eine neue Jahreszahl im Datum steht - eine phoenixhafte Wiedergeburt aus der Asche des abgelaufenen Jahres, die alle Sorgen, Plagen und Unrichtigkeiten zurückläßt, die eine alljährliche Chance, sich auf einem neuen, weißen Blatt Papier ein ganz neues Leben, ein neues Glück zu schreiben.

Meine Gedanken zum Jahreswechsel drehten sich eher um Altes, um das, was Bestand hat in meinem Leben, meinem Herzen, um die Dinge, die nicht aufhören, sich nicht ändern und Halt und Hoffnung und Liebe geben. Dinge, die mehr Ausdauer brauchen als ein Jahr, und die erst gut und beglückend werden, wenn wir nicht an jedem Silvesterabend etwas Neues beginnen, sondern am 1. Januar genau da weitermachen, wo wir am 31. Dezember aufgehört haben. Denn erscheint nicht manche Neuerung nur deshalb so anziehend, weil sie uns der Kontinuität, der beharrlichen, oft mühsamen Arbeit am ewig Gültigen zugunsten eines raschen, unverbindlichen Ablaufs steter hoffnungsberauschter Neuerungen, enthebt...? Weil das Neue uns zu nichts verpflichtet, da wir es ja überkommen können, wenn es alt wird?

Vielleicht wäre unsere Lebensenergie bei manch Altem echter und gerechter verwendet als bei dieser und jener Neuerung. Gerade zum neuen Jahr sollte man sich (wenigstens auch) danach fragen.