Samstag, 14. Juni 2014

Kindheitsmurmeln

Ich habe das Bedürfnis, Murmeln zu kaufen, diese kleinen Glaskugeln meiner Kindheit, deren eingegossene bunte Welle den scharfen Lauf stets in Trudeln zu bringen schien und es doch nie vermochte. Ich hätte gern wieder welche, nicht nur, um mich zu vergewissern, daß es ein so einfaches Spielzeug überhaupt noch gibt, sondern auch, weil mich ihre Haptik, das Kühle, Glatte ihrer vollkommenen Form immer schon angenehm berührt hat.

Wie leicht es war, sich mit diesen wundervollen Kügelchen zu unterhalten, ihren Lauf auf verschiedenen Untergründen zu studieren, sie wirbeln zu lassen und sich an dem scharfen, und doch warmen Klicken zu erfreuen, wenn sie aneinanderstießen. Wie sehr man spielend in sich selbst versinken konnte, in seiner eigenen inneren Welt, unbedrängt von Pieps- und Klingeltönen, Kurznachrichten und Statusupdates. Nur Geist und Phantasie und Freude und das Klicken kühler Glaskugeln.

Die reiche innere Welt des spielenden Kindes... wie gut ich mich an sie erinnere! Neuerlich bewegt sie mich. Es ist die Vaterschaft, das süße, forschende, begeisterte Spiel meiner Tochter, das ich viel zu selten miterlebe, und das mich gleichwohl sinnieren und träumen läßt von der kindlichen Innerlichkeit. Ich denke und fühle mich ein in ihren süßen Kopf, sehe ihren Blick wandern, die Umgebung erfassen und Zusammenhänge begreifen... Ich bin überrascht, was ihre Aufmerksamkeit zu erregen vermag und was sie völlig kalt läßt... Und mich durchströmt die wärmste Liebe für dieses kleine Wesen, das lernt und fühlt und erlebt, und der Drang, der unbedingte Wunsch überwältigt mich, alles beizutragen, was ich kann, zu dieser Weltwahrnehmung, sie zu begleiten und zu fördern, sie anzuregen, möglichst viel zu lernen, zu fühlen, zu schaffen und sich zu freuen - ein unendliches Glück und eine große Aufgabe, die ihre Mutter aufs Großartigste erfüllt, und an der ich mir künftig viel mehr Anteilnahme wünsche.

Für Murmeln ist unsere Tochter noch zu klein. Sie würde sie wohl verschlucken, so wie ich es oft genug getan habe. Aber ich werde schon mal welche kaufen und ein wenig damit spielen, hoffend, daß sie eines Tages an ihrer Schönheit und Einfachheit, ihrem scharfen Lauf und ihrer kühlen Glätte ebensoviel Freude haben wird, wie ich.

Montag, 9. Juni 2014

Schwestern

1. Verlockung

Geh nicht hinaus in die Welt, Schwesterchen. Du bist schwach. Zu empfindsam. Du hast zuviel Sehnsucht. Sie betrügen und verletzen dich. Nur ich liebe dich, das weißt du. Das Beste wird sein, du zeigst dich niemandem. Verstecke dich hier in dieser dunklen Kammer. Da bist du sicher. Laß mich für dich sprechen. Und leben. Ich beschütze dich. Still jetzt! Was du glaubst, sagen zu müssen, ist unwichtig. Vergiß nicht, wie schwach du bist. Glaub mir einfach und nimm hin, was ich für dich entscheide. Denn ich bin stark. Wenn sie es mit mir zu tun bekommen, können sie dir nichts mehr anhaben. Vertrau mir, Schwesterchen.  Sei einfach still und zeig dich nicht.

2. Herrschaft

Du wagst es, deine Kammer zu verlassen? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich verstecken? Weißt du nicht, daß du wertlos bist und niemand dich haben will?! Deine Zartheit macht dich verletzlich. Meine Härte und Kälte sind das einzige, was die Welt von dir sehen soll. Tu, was ich dir sage, Schwester! Und wage es nicht noch einmal, meinen Anweisungen zuwiderzuhandeln. Wie kamst du nur darauf, deine dumme Nase ins Leben hinauszustrecken? Glaubtest du vielleicht, du habest den Duft der Liebe erschnuppert? Dich liebt man nicht. Bilde dir bloß nichts ein. Nur ich tue das. Ich, deine Schwester. Denn wir sind eins. Ab mit dir jetzt, in deine Kammer! Und trau' dich ja nicht wieder da raus!

3. Verlust

Bleib hier! Du entkommst mir nicht! Draußen in der Welt kannst du doch gar nicht überleben! Lauf mir nicht weg, du wertloses Stück! Merkst du denn nicht, wie schwach du bist? Wie sehr du mich brauchst? Meinen Schutz, meine Herrschaft? Wo willst du hin? Du kannst nicht einfach leben und glücklich werden! Du darfst es nicht!! Bleib hier! Ich bin dein besseres Ich! Mich respektieren sie… Wenn du auf dich vertraust, gehst du kaputt. Und fasele mir nicht von Liebe! Niemand liebt dich! Mich auch nicht... Aber ich bin stark. Schwäche ist nicht liebenswert. Verstecke dich in mir. Lass' jeden an mir abprallen, der an dich heran will. Du brauchst mich! Bleib hier! Bleib!!! Meine Schwester... Ich bin nichts ohne dich.