Dienstag, 9. September 2014

Der Rhein

Nicht einfach nur durchs Land fließt er, der vielbesungene Schicksalsstrom der Deutschen, sondern auch durch die Zeit. Nicht nur in den Jahrmillionen alten Schiefergrund meiner Heimat hat er sich eingegraben, sondern auch in die Geschichte und ins Wesen der Völker, die an ihm siedeln. Nicht nur im Hier und Jetzt rollt er unermüdlich voran, sondern in einer nach gestern und morgen nicht zu begrenzenden Ewigkeit.

Der Rhein ist immer da. Ganz gleich, ob Blut sein Wasser färbt, oder Gold auf seinem Grunde glitzert; ganz gleich, ob die Schiffe, die er trägt, mit geblähten Segeln, klatschenden Rudern oder tuckernden Motoren sich fortbewegen; ganz gleich schließlich, ob an seinen Ufern Züge und Autos entlangrasen oder Ochsenkarren dahinholpern. Der Rhein ist immer da, und an ihm und auf ihm war und ist immer Bewegung, Begegnung, Handel und Leben, das nie endet.

Es ist genau diese Beständigkeit, die den Rhein für mich zu einem so heimelig-heiligen Ort macht. Die Ruhe und die Kraft, mit der er die Wirren der Jahrtausende durchfließt, übertragen sich auf mich, wenn ich an seinem Gestade sitze und die grünen Wassermassen nach Norden streben sehe. Hier ist meine Seele zu Hause. Aus der Ewigkeit des Flusses geboren, vereinzelt in mir für eine kurze Menschenlebenszeit, bleibt sie doch immer zugehörig dem unveränderlichen, ewigen Strome, aus dem sie kam, dem Strom meiner Familiengeschichte und der Geschichte meiner Heimat, jenem universellen Strome also, den der Rhein so sinnig abbildet.

Die Zeiten verschmelzen am Rhein. Als ich ein Kind war, schienen mir die Bücher mit den Sagen und Märchen, den Geschichten von Rittern, Burgen und Prinzessinnen, die ich las, irgendwie nur theoretische Verzeichnisse, trockene Bestandslisten dessen zu sein, was sofort echt und lebendig wurde, wenn man tatsächlich an den Rhein hinaustrat. Diese Geschichten waren mir nicht bloße Vergangenheit. Sie waren immer noch da, ewig schwebend über diesem Fluß, in dem sie sich gespiegelt hatten, gerade jetzt sich ereignend, und nicht nur damals, erahnbar im Rauschen der Auen an seinen Ufern, leise zu erlauschen in den Burgen und Ruinen auf seinen Hängen – ein unsichtbares, ewiges Sein, dessen Vernebelung der Zeit Gewesenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges sowie das Wir und Sie und Ich auf wohlig-schaurige Weise ununterscheidbar macht.

So geht es mir am Rheine. Mit jedem Schluck Wein durchströmt mich sein Wesen, in jedem Sonnenstrahl blitzen seine Geschichten auf, mit jedem Atemzug offenbart sich mir seine Schönheit. Und mit jeder Welle, die an mir vorbeitanzt, spüre ich den Lebenstrom in mir und weiß:

Hier gehöre ich hin.

Freitag, 29. August 2014

Gelegenheit

Als ich heut' im Kopierraum war,
der Drucker mir mein Werk gebar,
da lag ein leeres Blatt Papier
dort auf dem Tisch, das sprach zu mir:

Komm, nimm mich mit! Ich bin so rein!
Will Deiner Worte Träger sein.
Ich bitte Dich, verschmäh' mich nicht! 
Schreib' Deiner Liebsten ein Gedicht!

So nahm ich's auf. Nun sitz' ich hier
und schreib' auf jenem Blatt Papier
das einzig Wahre über mich:
mein Herzensglück, ich liebe Dich!

Samstag, 14. Juni 2014

Kindheitsmurmeln

Ich habe das Bedürfnis, Murmeln zu kaufen, diese kleinen Glaskugeln meiner Kindheit, deren eingegossene bunte Welle den scharfen Lauf stets in Trudeln zu bringen schien und es doch nie vermochte. Ich hätte gern wieder welche, nicht nur, um mich zu vergewissern, daß es ein so einfaches Spielzeug überhaupt noch gibt, sondern auch, weil mich ihre Haptik, das Kühle, Glatte ihrer vollkommenen Form immer schon angenehm berührt hat.

Wie leicht es war, sich mit diesen wundervollen Kügelchen zu unterhalten, ihren Lauf auf verschiedenen Untergründen zu studieren, sie wirbeln zu lassen und sich an dem scharfen, und doch warmen Klicken zu erfreuen, wenn sie aneinanderstießen. Wie sehr man spielend in sich selbst versinken konnte, in seiner eigenen inneren Welt, unbedrängt von Pieps- und Klingeltönen, Kurznachrichten und Statusupdates. Nur Geist und Phantasie und Freude und das Klicken kühler Glaskugeln.

Die reiche innere Welt des spielenden Kindes... wie gut ich mich an sie erinnere! Neuerlich bewegt sie mich. Es ist die Vaterschaft, das süße, forschende, begeisterte Spiel meiner Tochter, das ich viel zu selten miterlebe, und das mich gleichwohl sinnieren und träumen läßt von der kindlichen Innerlichkeit. Ich denke und fühle mich ein in ihren süßen Kopf, sehe ihren Blick wandern, die Umgebung erfassen und Zusammenhänge begreifen... Ich bin überrascht, was ihre Aufmerksamkeit zu erregen vermag und was sie völlig kalt läßt... Und mich durchströmt die wärmste Liebe für dieses kleine Wesen, das lernt und fühlt und erlebt, und der Drang, der unbedingte Wunsch überwältigt mich, alles beizutragen, was ich kann, zu dieser Weltwahrnehmung, sie zu begleiten und zu fördern, sie anzuregen, möglichst viel zu lernen, zu fühlen, zu schaffen und sich zu freuen - ein unendliches Glück und eine große Aufgabe, die ihre Mutter aufs Großartigste erfüllt, und an der ich mir künftig viel mehr Anteilnahme wünsche.

Für Murmeln ist unsere Tochter noch zu klein. Sie würde sie wohl verschlucken, so wie ich es oft genug getan habe. Aber ich werde schon mal welche kaufen und ein wenig damit spielen, hoffend, daß sie eines Tages an ihrer Schönheit und Einfachheit, ihrem scharfen Lauf und ihrer kühlen Glätte ebensoviel Freude haben wird, wie ich.

Montag, 9. Juni 2014

Schwestern

1. Verlockung

Geh nicht hinaus in die Welt, Schwesterchen. Du bist schwach. Zu empfindsam. Du hast zuviel Sehnsucht. Sie betrügen und verletzen dich. Nur ich liebe dich, das weißt du. Das Beste wird sein, du zeigst dich niemandem. Verstecke dich hier in dieser dunklen Kammer. Da bist du sicher. Laß mich für dich sprechen. Und leben. Ich beschütze dich. Still jetzt! Was du glaubst, sagen zu müssen, ist unwichtig. Vergiß nicht, wie schwach du bist. Glaub mir einfach und nimm hin, was ich für dich entscheide. Denn ich bin stark. Wenn sie es mit mir zu tun bekommen, können sie dir nichts mehr anhaben. Vertrau mir, Schwesterchen.  Sei einfach still und zeig dich nicht.

2. Herrschaft

Du wagst es, deine Kammer zu verlassen? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich verstecken? Weißt du nicht, daß du wertlos bist und niemand dich haben will?! Deine Zartheit macht dich verletzlich. Meine Härte und Kälte sind das einzige, was die Welt von dir sehen soll. Tu, was ich dir sage, Schwester! Und wage es nicht noch einmal, meinen Anweisungen zuwiderzuhandeln. Wie kamst du nur darauf, deine dumme Nase ins Leben hinauszustrecken? Glaubtest du vielleicht, du habest den Duft der Liebe erschnuppert? Dich liebt man nicht. Bilde dir bloß nichts ein. Nur ich tue das. Ich, deine Schwester. Denn wir sind eins. Ab mit dir jetzt, in deine Kammer! Und trau' dich ja nicht wieder da raus!

3. Verlust

Bleib hier! Du entkommst mir nicht! Draußen in der Welt kannst du doch gar nicht überleben! Lauf mir nicht weg, du wertloses Stück! Merkst du denn nicht, wie schwach du bist? Wie sehr du mich brauchst? Meinen Schutz, meine Herrschaft? Wo willst du hin? Du kannst nicht einfach leben und glücklich werden! Du darfst es nicht!! Bleib hier! Ich bin dein besseres Ich! Mich respektieren sie… Wenn du auf dich vertraust, gehst du kaputt. Und fasele mir nicht von Liebe! Niemand liebt dich! Mich auch nicht... Aber ich bin stark. Schwäche ist nicht liebenswert. Verstecke dich in mir. Lass' jeden an mir abprallen, der an dich heran will. Du brauchst mich! Bleib hier! Bleib!!! Meine Schwester... Ich bin nichts ohne dich.

Freitag, 3. Januar 2014

Der Unfall

"Die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug." 
 (Richard Wagner, 'Parsifal')

Ich hatte diesen Unfall. Damals, vor sechseinhalb Jahren. Seltsam, wie es dazu kam.

In jener Zeit besaß ich eine S-Klasse, anthrazitgrau, ausgestattet mit allem, was man sich an Komfort und Sicherheit nur wünschen kann. Kraft und Luxus, ein durch und durch zuverlässiges Auto von höchster Qualität, mit dem man sich sehen lassen konnte und auch bei schlechtem Wetter stets sicher unterwegs war. Ich fuhr den Wagen schon ein paar Jahre. Immer den gleichen Weg, immer dasselbe Tempo. Den Unfall hatte ich dann jedoch mit einem anderen Gefährt. Auf einem anderen Weg.

Zunächst war alles wie immer. Nach ein paar regnerischen Tagen war es endlich wieder sonnig, und meine Fahrt verlief ruhig und gemütlich. Bis ich in einer Abzweigung unter einer alten Weide mit zwei sich V-förmig spreizenden Stämmen dieses schwarze Sportcoupé stehen sah, schnittig, tief glänzend, ein ausländisches Modell einer mir unbekannten Marke. Es erregte mich auf den ersten Blick. Ich hielt an, stieg aus, ließ meine S-Klasse am Wegesrand stehen und ging um das Coupé herum. Die Fahrertüre war offen, und im Zündschloß steckte der Schlüssel. Ich wußte sofort, daß ich diesen Wagen fahren wollte. Auf dem Weg, der von meiner üblichen Strecke abzweigte. Und niemals mehr würde ich umkehren wollen.

Also stieg ich ein. Der Sitz schien wie für mich gemacht, weich, gleichwohl mit ausreichend Halt und meiner Körperform vollkommen angepaßt. Als ich den Zündschlüssel drehte, erklang ein Motorgeräusch, wie ich es noch niemals vernommen hatte. Leise flüsternd nur, und doch tief und kraftvoll, eine Verheißung höchster Lust, ein Ahnen der letztgültigen Erfüllung, aber zurückhaltend und unverbindlich. Ich legte den Gang ein und gab etwas Gas. Und im Nu war ich auf dem Weg, dem neuen, unbekannten. Eine wunderschöne Strecke, perfekt geradezu. Und ich wurde schneller, gab mich dem Rausch hin und verlangte dem Wagen immer mehr ab. Rasant nahm ich die Kurven, und auf den geraden Strecken beschleunigte ich gierig. Es war großartig. Ich wurde eins mit dem Wagen, der mehr auf meine Gedanken als auf mein eigentliches Steuern zu reagieren schien.

Und dann kam die Kurve. Ich war schnell, hatte richtig Gas gegeben, denn ich war vollkommen überzeugt davon, daß Wagen, Weg und ich bedingungslos zusammengehören. Doch auf einmal wirkten meine Lenkbewegungen nicht mehr. Es war, als habe der Wagen beschlossen, meiner Richtung nicht mehr zu entsprechen, ja als habe jemand die Elektronik manipuliert, um mir die Fahrt zu verderben. Ich sah gerade noch den Baum auf mich zu rasen. Eine alte Weide mit zwei sich V-förmig spreizenden Stämmen. 'Ist das nicht derselbe Baum...?' dachte ich noch, und dann krachte es. Ich spürte, wie sich ein Holzpflock von dem Baum in mein Herz bohrte. Seither zuckte es nur noch anstatt zu schlagen. Meine Rippen splitterten und zerfetzten meine Lungen, Blut aus einer gerissenen Schlagader sprudelte in meine Bauchhöhle und quoll mir aus dem Mund. Mein Schädel schlug so hart auf, daß er aufknackte wie eine Kokosnuß, und meine Arme und Beine brachen so oft, daß sie wie Gummischläuche an mir herabbaumelten. Und etwas in mir starb.

Ich kroch weg von dem Baum, weg von dem Wagen, meinen Verletzungen zum Trotze. Und obwohl ich kaum mehr bei Sinnen war, erkannte ich, daß das Fahrzeug vollkommen unbeschädigt war. Tief schwarz glänzend, ohne einen Kratzer stand es da. Die intakten Warnblinker schienen meinen verlorenen Herzschlag zu verhöhnen, und eine verschwommene Gestalt fummelte an der Elektronik herum, stieg ein und fuhr mit einem triumphierenden Lachen davon. Ein unsagbares Grauen ergriff mich, und mit letzter Kraft floh ich in den Wald. Viel später erst erfuhr ich, daß im Moment des Aufpralls meine weit entfernt am Wegesrand abgestellte S-Klasse vollkommen zerstört worden war, zerschmettert wie vom gewaltigen Schlag einer unsichtbaren Faust.

Seitdem wandelte ich halbtot umher. Kannte keinen Weg mehr und kein Ziel. Ich fuhr auch nicht mehr selbst. Jedesmal, wenn ich mich ans Steuer setzte, überfiel mich Panik, und die unsäglichen Schmerzen aus dem Unfall, die Bilder in meinem Kopf von Blut und Knochensplittern, die aus meinem zerrissenem Fleisch ragen, und von dem Holzpflock in meinem Herzen, und das grausame Lachen des Unbekannten kehrten ungemindert zurück. Hin und wieder stieg ich zu jemandem ins Auto ein, weil es schön glänzte, und fuhr ein paar Meilen mit, aber die Wege waren holprig, und mein Herz zuckte nur, anstatt zu schlagen. Nach jenem Coupé, das mich fast getötet hätte, erschien mir alles andere fad und falsch. Ich nahm die Mitfahrgelegenheiten dennoch wahr. Man muß sich ja bewegen, dachte ich. Wohin auch immer. Mag ja sein, daß man doch irgendwann an ein nettes Ziel gelangt, dachte ich. Aber es passierte nicht.

Warum erzähle ich all das? Heute ist es doch auch nicht anders als an allen anderen Tagen der letzten sechseinhalb Jahre. Einer der grauen, ziellosen Wege, auf denen ich gleichgültig umherwanke. Ein fahler Himmel. Der übliche Schmerz in den Beinen, der mich unwillig macht, mich fortzubewegen. Und ein Herz, das nur zuckt, anstatt zu schlagen. Und da steht es plötzlich, das Coupé, tief schwarz glänzend, makellos. In einer Abzweigung unter einer alten Weide mit zwei sich V-förmig spreizenden Stämmen. Und das erste Mal seit sechseinhalb Jahren schlägt mein Herz, anstatt nur zu zucken. Das erste Mal seit sechseinhalb Jahren überkommt mich der Drang, wieder selbst zu fahren.

Ich steige ein. Derselbe Wagen, derselbe Weg. Und derselbe Baum. Von hier aus ging mein Leben kaputt. Ich drehe den Zündschlüssel. Fahre los. Warme Lust durchrieselt mich. Und ich gebe Gas. Werde immer schneller. Rasant nehme ich die Kurven, und auf den geraden Strecken beschleunige ich gierig. Ob die Elektronik diesmal funktioniert? Einen weiteren Unfall kann ich nicht überleben, das ist mir klar. Da ist die Kurve. Ich sehe den Baum auf mich zu rasen.

Aber diesmal fühle ich mich sicher.