Mittwoch, 18. April 2012

Gewinnen oder verlieren

Es war die seltsamste Spielschau, die man je gesehen hat. Die Kandidatin saß wie gelähmt an ihrem Pult und starrte auf die vier Antwortmöglichkeiten - A, B, C oder D. Rastlos zuckte ihr Blick auf dem Bildschirm herum, gerade so als sei vielleicht die richtige Antwort ein bißchen heller als alle anderen, und man müsse nur geduldig warten, bis der Unterschied auffällig genug würde, um ganz sicher zu gehen. Aber dergleichen passiert nicht in solchen Spielen. Der Druck war fraglos enorm - bei dieser Frage ging es um den berauschenden Millionengewinn oder den demütigenden Absturz auf die Null, und so wurde die Kandidatin immer verspannter.

Dabei hatte alles so gut angefangen. Als sie das Scheinwerferlicht betreten und sich der Alternative zu gewinnen oder zu verlieren bedingungslos unterworfen hatte, waren ihr sogleich die Herzen des Publikums zugeflogen. Minutenlang hatte man ihr applaudiert, und sie hatte es sichtlich genossen. Mit jenem zauberhaften Lächeln, bei dem rechts stets ein kleiner Spalt zwischen ihren Lippen geöffnet blieb, auch wenn sie aufeinander lagen, und das die Frauen zauberhaft, die Männer hingegen geil fanden, hatte sie im Applaus geduscht und sich dann elegant auf den Hochstuhl gesetzt, auf dem sich ihr Schicksal entscheiden sollte. Die ersten Fragen hatte sie nicht ohne Zögern, aber fehlerlos beantwortet, und der Gewinn schien ihr gewiß.

Dann aber, gerade vor der Millionenfrage, fiel das Rechnersystem kurz aus, und der Bildschirm bot für ein paar Minuten keine Antwortmöglichkeiten. Eine Kleinigkeit, sollte man meinen, aber für die Kandidatin änderte sich in diesem Moment alles. Ihr Lächeln verschwand; ihr so schönes Gesicht verzerrte sich zu einer hysterischen Fratze, und sie schrie den Moderator an, daß sie das Spiel sofort verlassen wolle. Sie würde die Polizei rufen, wenn man sie nicht gehen ließe. Schrie's, sprang auf und rannte hinaus.

Es war still im Saal. Niemand regte sich. Niemand sprach. Ein leises Schluchzen aus den hinteren Reihen, das war alles, was man hörte. Auch der Moderator saß stumm auf seinem Stuhl und starrte durch sein Pult hindurch mit glasigen Augen ins Leere. Fast eine halbe Stunde saß man so, ohne daß etwas geschah.

Dann wurde das Publikum unruhig, und vom Eingang her breitete sich Gemurmel im ganzen Saal aus, das schließlich in einen erleichterten, prasselnden Applaus mündete - die Kandidatin war zurückgekehrt! Daß sie nach Nikotin roch und verweinte Augen hatte, war allenfalls dem Moderator bemerklich. Sie nahm Platz, und als wäre nichts geschehen, ließ der Moderator das Spiel weitergehen. Eigentlich hätte sie disqualifiziert werden müssen, aber das kam ihr nicht in den Sinn; vielmehr gefiel sie sich darin, überhaupt zurückgekehrt zu sein.

Dann stellte der Moderator die Millionenfrage, und die Kandidatin erstarrte. Sie verfiel in eine völlige Lähmung und schien nichts mehr wahrzunehmen. Einzig ihr Blick zuckte rastlos auf dem Bildschirm herum, gerade so als sei vielleicht die richtige Antwort ein bißchen heller als alle anderen. Der Moderator sah sie ermutigend an, aber sie bekam es nicht mit.

"C!" rief jemand aus dem Publikum, "die Antwort lautet C!"
Das war gegen die Regeln, aber mit einemmal schienen die ihre Gültigkeit verloren zu haben, und als ob sich das Publikum extra für sie zu einer Ausnahmesituation, zu einem Sonderrecht verschworen habe, erhoben sich immer mehr Stimmen und riefen "C! Wähle Antwort C!", bis es ein einziger Tumult aus Hilfe und Ermutigung war.

Die Kandidatin aber schien durch diese Hinweise erstrecht unsicher zu werden. Sie hielt sich die Ohren zu und schrie: "Nein, ich kann das nicht! Ich möchte aufhören!"
Schließlich legte der Moderator sanft die Hand auf ihren Arm, zog ihr behutsam die Hände von den Ohren und sagte: "Ihr Publikum hat recht! Es ist Antwort C. Drücken Sie auf C, und sie gewinnen die Million!"

"Das kann nicht sein!" schrie sie, "hier sind doch alle gegen mich! Ich habe so Angst davor, daß Ihr einfach nur gemein zu mir seid! Ich höre auf!" Und sie sprang auf und rannte abermals aus dem Saal.

Ein betroffenes Schweigen legte sich über die Menge. Dann stand einer nach dem anderen langsam und schweigend auf und ging. Bis der Moderator ganz allein war, mitten im Scheinwerferlicht, ohne Kandidatin, ohne Publikum, ohne Spiel und ohne Gewinner.

Als der Beleuchter begann, die Strahler abzuschalten, erhob sich der Moderator, ging hinaus und fuhr nach Hause. Von der Kandidatin hat er nie wieder etwas gehört.

Dienstag, 10. April 2012

Osterbegegnung

"Frohe Ostern!" ruft eine vertraute Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und stehe vor dem alten Mann, der mein Vater war.
"Dir auch!" antworte ich. Er umarmt mich. Es befremdet mich und dauert mir zu lange. Ich löse mich sanft. Dann entsteht eine kurze Pause.
"Geht es Dir gut? Bist Du gesund?" frage ich, denn das ist im Grunde alles, was mich interessiert. Ich wünsche dem alten Mann, der mein Vater war, nämlich von Herzen, daß es ihm gut geht.
"Ja, danke", antwortet er, "sehr gut geht es mir." Er hält inne. "Ich hätte so viel zu sagen", fährt er schließlich fort, "aber dafür reicht die Zeit wohl nicht aus. Wir müßten mal eine ganze Nacht lang reden."
"Dann sollten wir uns diese Gelegenheit schaffen", sage ich, "wenn Du das möchtest."
Insgeheim staune ich ein wenig über sein Bemühen. 15 Jahre hatten wir uns nichts zu sagen. Nun scheint ihm tatsächlich an einer Aussprache gelegen. Der alte Mann, der mein Vater war, scheint weiser geworden, ruhiger, versöhnlicher.
"Ich habe so viel nachgedacht", sagt er, "und es wurden sicher auf beiden Seiten Fehler gemacht."
Mein Erstaunen wächst. Solche Zugeständnisse bin ich nicht gewöhnt von dem alten Mann, der mein Vater war.
"Und ich habe mittlerweile erkannt", fährt er fort, und ich horche gespannt auf, "daß ich verdammt recht hatte!"
Ah. Jetzt erkenne ich ihn wieder. Nach all den Jahren ist sein Ansatz zu einem klärenden Gespräch, daß er recht hatte. Nun klingt der alte Mann wieder wie damals. Als er mein Vater war.
"Die Frage ist doch", sage ich langsam, bewußt nicht sofort auf seine Rechthaberei anspringend, "was wir zu gewinnen haben. Für mich jedenfalls funktioniert unser Verhältnis, so wie es ist, ganz gut..."
"Wir müssen einen Weg finden!" sagt er.
"Ich weiß nicht", erwidere ich, "es ist fraglos tragisch, wenn zwei Menschen sich durchaus nicht verstehen, besonders, wenn sie Vater und Sohn sind."
"Sehr tragisch!" betont er.
"Ja, ohne Frage. Aber man muß es irgendwann akzeptieren. Ich frage mich einfach, was gut für mich ist, und welcher Art von Gespräch oder Begegnung ich mich aussetzen möchte."
"Sag doch nicht immer nur 'ich' und 'für mich'", antwortet der alte Mann, der mein Vater war, fast etwas larmoyant, "das zeugt von einem so schlimmen Egoismus."
Hm, der Egoismusvorwurf mal wieder. Nun fehlt nur noch das Altersargument.
"Ich bin wahrlich kein egoistischer Mensch", sage ich und spüre, wie mein Staunen der üblichen Enttäuschung weicht, "aber ich habe, wie jeder Mensch, das Recht, mir für mein Leben sehr genau zu überlegen, was mir gut tut und was nicht, und Du hast mir eben sehr lange nicht gut getan."
"Allein schon diese Aussage!" sagt er, und seine Dramatik schwankt zwischen Wehklage und Vorwurf, "Du hattest so viele gute Jahre mit mir, und ich habe Dir alle Wege geebnet, alle Türen geöffnet und Dir alles ermöglicht, was man einem jungen Menschen ermöglichen kann!" Er seufzt tief und wendet sich halb ab. "Es war wohl doch ein Fehler, Dir heute nachzugehen..."
"Nun werd' mal nicht theatralisch", sage ich und spüre erstaunlicherweise nicht mehr wie früher die Versuchung in mir, die vielen Gemeinheiten, Machtspiele und Demütigungen aufzuzählen, von denen seine "Ermöglichungen" geprägt waren, "ich bin ja gar nicht gegen ein Gespräch! Ich frage mich nur, was wir zu gewinnen haben, wenn von vornherein feststeht, daß Du eh recht hattest."
"Man muß wohl doch älter werden", sagt er in schlecht inszenierter Erschütterung, "um das alles richtig sehen zu können!"
Das Alter. Da ist es.
"Ich bin fast 42 Jahre alt und habe auch schon einiges erlebt; ich bilde mir meine Sichtweise gewiß nicht aus jugendlichem Trotz." sage ich, und ich merke, wie das Gespräch mich zu belasten beginnt.
"Trotzdem", sagt er, "man muß noch älter werden."
Aha, denke ich.
"Aha." sage ich.
"Es war ein Fehler", sagt er leise, "mach's gut. Frohe Ostern." Er streckt mir die Hand hin und wendet sich halb zum Gehen. Das schlechte Gewissen, auf das diese Geste zielt, stellt sich indes nicht ein. Eher so etwas wie Wehmut.
"Dir auch!" sage ich. Ich lasse ihn gehen und wende mich meinerseits um. Gehe nach Hause.
Alles ist, wie es immer war. Er sieht sich im Recht. Es soll ihm gut gehen damit. Ich freue mich wirklich, wenn es dem alten Mann, der mein Vater war, gut geht. Er war schließlich mal mein Vater.