Donnerstag, 24. November 2011

Sinnhauch

Ein Hauch von Sinn hat mich gestreift.
Zart wehte mich die Ahnung an,
daß alles seinen Zweck doch hat,
sein Ziel und seinen Weg zum Glück
in diesem Erdenleben.
Ein Sinnhauch, warm und glückvoll war's,
nach kalter Leere, die da war -
ich schauderte. Wie‘s üblich ist
bei solchem herzenswarmen Wind.
Und glaubt‘ es kaum. Und staunte stumm,
daß mir dies Wunder widerfuhr.
Doch war es Trug. Ein Hauch. Mehr nicht.
Der selbstgefällig bald verflog,
den Nächsten zu umwehen.
Glaubte von sich, er gab sich hin.
Und ließ mich sinnlos stehen.


(Anmerkung des Autors:
Das Wort "Sinnhauch" ist eine freundliche Leihgabe der wunderbaren Autorin Susanne Bohne. Ihr gleichnamiges eBook kann hier direkt erworben werden.) 

Donnerstag, 3. November 2011

Der Segen der Vergänglichkeit

Das Leben ist schwer. Ich habe nie vermocht, es zu meistern. Und je älter ich wurde, desto schwerer erschien es mir. Mein Halt, mein einziger Trost ist die Gewißheit, daß dieses Leben eines Tages zu Ende und am Tag darauf vergangen sein wird.

Dabei gab es eine Zeit, da ich fest glaubte, es werde leichter. Mit dem Heranwachsen, der Entwicklung über Kindheit und Jugend hinaus wachse auch die Selbstbestimmung, die Anerkennung der Mitmenschen und die Fähigkeit, alle Herausforderungen des Lebens zu bestehen. Jede Phase meines Daseins auf dieser Erde war hauptsächlich davon geprägt, daß ich ihre Überwindung herbeisehnte in dem irrigen Glauben, danach komme eine, die ich erträglicher finden würde. Als Kleinkind haßte ich es, nicht laufen zu können – ohne daß ich konkrete Erinnerungen daran hätte, aber das Gefühl der Demütigung, die ich ob dieser Tatsache empfand, hallt deutlich in mir nach. Und also begegnete ich dieser Einschränkung mit Verweigerung. Ich krabbelte nicht, sondern bewegte mich einfach solange nicht vom Fleck, bis ich, zum Erstaunen meiner Mutter, eines Tages aufstand und ging.

Auch das Pflaster, das man mir über mein gesundes rechtes Auge klebte, als ich zwei Jahre alt war, um das bei meiner Geburt beschädigte linke zu trainieren, empfand ich als Demütigung, behinderte es doch meine klare Sicht und damit die Wahrnehmung meiner Welt, die ich mir doch gerade erst zu erschließen begonnen hatte. Kaum hatte ich eine Möglichkeit entwickelt und war an der Schwelle zu etwas Neuem angekommen, schränkte man sie mir ein. Ein Muster, das sich für den Rest meines Lebens erhalten und wie ein roter Faden durch mein Erdendasein ziehen sollte. Und also stolperte ich Kind durch die elterliche Wohnung, rannte an und sah meine Umwelt als verschwommenes, allenfalls impressionistisch anmutendes Bild. Ich glaube, schon damals ist mir mein Realitätssinn abhanden gekommen, und die Welt, das Leben und meine Mitmenschen begannen, mir surreal und ungreifbar vorzukommen.

Also harrte ich der Überwindung dieser Phase. Was nützte mir das Laufenkönnen, wenn ich nichts sah. Und tatsächlich, eines Tages begriffen sogar meine Eltern, daß an meinem Auge nichts zu heilen war, weil es nicht einfach schwach, sondern irreparabel beschädigt war. So wie meine Seele. Man nahm das Pflaster ab, und ich sah. Scharf, klar. Erschreckend. Jedes Detail. Jedes Staubkorn. Jede Regung in den Gesichtern der Erwachsenen, und jede Lüge in ihren Herzen. Und es widerte mich an. Fast meine ich mich zu erinnern, daß ich mir die impressionistisch verwaschene Welt der Pflastertage zurückwünschte. Vergänglichkeit in die Vergangenheit. Eine ewige Sehnsucht.

Ich wurde drei, vier, und das, was andere Menschen Realität nannten, war mir eine banale Lästigkeit. Im Kindergarten schlief ich, um nicht mit anderen, banaleren Kindern spielen zu müssen. Jeden Morgen kam ich an und wanderte schnurstracks durch den Saal ins Büro, wo mir die Kindergärtnerinnen, nachdem sie verstanden hatten, wie aussichtslos ihre Integrationsversuche waren, ein großes Kissen und eine Decke unter den Schreibtisch gelegt hatten. Ich ging dorthin und wartete nur darauf, daß der Vormittag verginge. Im süßen Schlaf Zeit vergehen lassen – welch angenehmer und einziger Lebenssinn.

Die Schule bot solche Rückzugsmöglichkeiten nicht mehr. Die Realität, der ich mich bis dahin erfolgreich entzogen, ja verweigert hatte, war nun unausweichlich. Und also gab ich einen Teil meines Widerstandes auf, um es mir nicht schwerer zu machen als nötig, und das erste Stückchen meiner autonomen, weltfernen Seele starb. Die schulische Realität war leicht, und ich bekam ausgezeichnete Noten. Ich wollte das auch – nicht aus Ehrgeiz, oder weil ich mich im Bewertungssystem der Realität möglichst weit oben positionieren wollte, sondern weil es mir Vergnügen machte, der Realität ihre eigene Belanglosigkeit dadurch vor Augen zu führen, daß ich sie so spielend leicht beherrschen konnte. Meine guten Noten waren meine Art, der Wirklichkeit zu zeigen, wie wenig ich von ihr hielt. Und so schrieb ich nebenbei meine ersten kindlichen Gedichte unter der Schulbank, als würzige kleine Pilze auf dem allzu faden Nährboden dessen, was den meisten anderen Kindern als Lebenswirklichkeit genügte und von ihnen vorbehaltlos als solche akzeptiert wurde. Sehr anregend war das alles indes nicht, und ich versprach mir eine erhebliche Erweiterung meiner Möglichkeiten durch die Überwindung der Grundschule und den Besuch des Gymnasiums. Welch ein Irrtum.

Denn kaum war ich auf dem Gymnasium, begriff ich, daß auch hier nicht mehr als Realität zu erwarten war. Zwar entführte man uns in die reiche Welt des Lateinischen und seiner Geschichten, brachte uns die erstaunlichen Wunder der Physik bei und zeigte uns erste kleine Odien des wunderbaren, riesigen Schatzes deutscher Literatur... aber anstatt dieser geistigen Welt eine heilige, unangetastete Existenz zu gewähren, zerhackte man sie in Lerninhalte, fragte sie in kleinlichen Tests ab und quetschte sie in das Bewertungssystem eben jener Realität, der sie doch ihrer phantastischen Natur nach nicht nur entzogen, sondern sogar übergeordnet waren. Ich fand das enttäuschend, ja empörend, und von diesem Moment an machten mir gute Noten auch als Mittel zur Bloßstellung der Realität keine Freude mehr. Und nichts wünschte ich mir mehr als diese kleinliche Sphäre schematischer Beurteilung zu überwinden. Wie gut, dachte ich, daß diese Phase vergeht. 

Mein Herz brach. Zum ersten Mal. Mit 17 verliebte ich mich glühend in ein Mädchen, das sich durchaus nicht für mich interessierte. Während sich ringsumher Pärchen bildeten und erste unbeschwerte Erfahrungen gemacht wurden (auch sie hatte plötzlich einen Freund, für den meine Träume wahr wurden), ließ mich die eine große, unerfüllte Liebe nicht los, und ich blieb allein. Mit meinem Schmerz. Er vergeht, dachte ich. Irgendwann vergeht der Schmerz. Aber das tat er nicht. Liebesschmerz ist überhaupt das Einzige im Leben, was nicht vergeht. Oder zumindest erst mit dem Tod. Vielleicht warte ich daher so sehnsuchtsvoll auf ihn. Jedenfalls hatte mich die Realität des Lebens nun vollends eingeholt – Schmerz und Enttäuschung.

Ich studierte, und mein Vater zahlte für meinen Unterhalt exakt den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestsatz. Immer wieder machte er Geld zum Druckmittel für meine Fügsamkeit, waren ihm als Musterbeispiel eines der allgemein akzeptierten Realität angepaßten Menschen meine weltfernen Exzentrizitäten doch zutiefst verhaßt und wohl auch peinlich. Seine ganz eigene Realitätsferne gestand er weder mir noch sich selbst ein... Als ich mir von den paar Mark, die ich mir zu ersparen vermocht hatte, einen 20 Jahre alten, rostigen Jaguar kaufte, anstatt einen ebenso alten rostigen Golf zum selben Preis oder gar ein Fahrrad zu erwerben, kürzte er mir zur Strafe den Wechsel mit dem Argument, wenn ich genug Geld habe, als Student einen Jaguar zu fahren, könne er mir ja durchaus etwas abziehen. Ich fand das unlogisch. Aber ich hatte keinerlei Gegenwehr zur Hand. Es geht vorbei, dachte ich mir. Die Phase der Abhängigkeit geht vorbei, und dann kannst Du machen, was Du willst.

Tatsächlich ging sie vorbei, diese Phase väterlicher Demütigung, und in den letzten 15 Jahren haben wir quasi nicht mehr miteinander geredet. Mir fehlt dabei nichts. Es ist alles gesagt. Es ist vergangen. Und das ist gut so. Ich tat, was ich wollte. Studierte ein weiteres Fach... heiratete schließlich und geriet dadurch in einen Lebenszustand, der seinem Wesen nach nicht auf Vergänglichkeit, sondern auf Bestand ausgelegt war. Vielleicht ist Bestand etwas, wovor mir graut, obschon ich mich zuweilen danach sehne. Vielleicht war ich die Vergänglichkeit von Lebensphasen so sehr gewöhnt, ja schätzte sie so hoch, daß ich nach 14 Jahren aus diesem Lebensbund ausbrach. Auswanderte gar. Nach Wien. Warum auch immer. Dies war das erste Mal, daß ich selbst, mehr oder minder bewußt, die Vergänglichkeit einer Phase herbeigeführt habe.

Dort lebte ich nun. Wartend auf etwas Neues, das ich nicht zu beenden hätte, sondern daß von allein verginge. Das Neue, das vergehen konnte, wurde gleichsam zu meinem Ideal. Ich begann ständig Neues, und zwar Affären oder Beziehungen zu Frauen, berauschte mich an den erregenden Anfängen und ließ sie wieder vergehen, wenn ihr Reiz im Lichte der alltäglichen Realität zu verblassen begann, das auch über den entrücktesten, romantischsten Verhältnissen irgendwann aufscheint. Ich ließ sie vergehen, wenn sie das wahre Leben zu berühren begannen, Perspektiven verlangten oder gar Pläne machten. Um wieder Neues zu beginnen. So süchtig war ich nach dem kurzen Zyklus des Erlebens, der unbedingten Haltlosigkeit, der Ungebundenheit an jede gültige Realität, daß ich zuweilen vier, fünf Verhältnisse gleichzeitig hatte, jedes voll und ganz gewollt und empfunden, aber doch nur um seiner Vergänglichkeit willen so innig erlebt. Vergänglichkeit macht sicher vor der Realität. Was man vergehen lassen kann, wird einen niemals binden, verpflichten oder auf dem Boden der Wirklichkeit festnageln können. Vergänglichkeit schützt vor Verantwortung. Dachte ich. Aber das war natürlich Unsinn.

Ich brach Herzen, zerstörte Hoffnungen und verletzte Seelen. Viele. Daß ich selbstverständlich Verantwortung für sie zu tragen gehabt hätte, war mir egal. Warum? Ich selbst war aufs Schrecklichste verletzt worden, und der Schmerz verging nicht. Er vergeht nie, der Liebesschmerz. Höchstens im Tod. Ich kam nach Wien, viel Vergangenes hinter mir lassend, und begegnete ihr. Dem Menschen, mit dem ich endlich etwas Unvergängliches zu beginnen bereit war. Nie habe ich so geliebt, nie war ich so entschlossen. Aber sie wollte mich nicht. Lockte mich, und stieß mich fort. Spielte mit mir, hielt mich hin, küßte mich – mehr nie – und stieß mich wieder fort. Spottete über meine Liebe, entfachte sie aber aufs Neue, wenn ich sie vergehen zu lassen begann. Erhörte einen anderen. Einen Unwerten, für den meine Träume wahr wurden. Und mein angebrochenes Herz wurde zerstört. Seither schien mir nur das Vergängliche, das Kurze, Innige, jeder Alltagsrealität entzogene erträglich, der Schein, das Spiel. Und ich brach Herzen.

Soll ich Ihnen nun vom Wunder meiner Heilung berichten? Von dem Menschen, der mich durch echte, reine Liebe herausholte aus dieser Scheinwelt? Dem Menschen, für den mein zerstörtes Herz seit Jahren und Jahren den ersten echten Schlag tat? Den ich lieben konnte und ewig und unvergänglich haben wollte? Es ist müßig. Was so plötzlich, so unerwartet meinem Leben Halt und Sinn zu geben schien, ist auch schon wieder vergangen. Das Leben... ich habe es nie zu meistern vermocht. Wann immer ich eine Chance auf Rettung, auf Heilung, auf eine nicht nur erträgliche, sondern gar erfüllende, beglückende Realität gehabt hätte, habe ich etwas getan, um sie zu verhindern. Aus Dummheit, aus Reflex, aus Routine... ich weiß es nicht. So bleibt eben alles vergänglich. Nur der Schmerz nicht. Ich wollte, er wäre vergänglich, so wie es all die guten Sachen sind. Diese Vergänglichkeit wäre ein Segen.

Aber es gibt sie nicht. Der Schmerz vergeht erst im Tod.