Donnerstag, 8. Juli 2010

Selbstabschaffung

Wenn jemand beschließt, sich selbst abzuschaffen, ist das immer tragisch. Sein Leben zu beenden, weil man darin keine Hoffnung, keinen Sinn und keine Freude mehr findet, ist ein unsagbar trauriger Schritt, nicht nur des eigenen Verlustes an Perspektiven und Möglichkeiten, sondern auch des unendlichen Leides wegen, dem man seine Hinterbliebenen aussetzt.

Auf der Fahrt von München nach Wien wurde ich gestern Zeuge einer solchen Entscheidung. Als der Zug kurz vor Amstetten plötzlich bremste, war mir intuitiv klar, was passiert war, und die vielen Polizisten, Notärzte und Feuerwehrleute, die kurz darauf erschienen und später einen schlichten braunen Sarg an der Seite des Zuges entlang trugen, machten die längst kursierende Vermutung zur grausigen Gewißheit.

In den vier Stunden, die unser Zug auf offener Strecke stand, habe ich mir viele Gedanken über das Phänomen der Selbstabschaffung gemacht. Es ging mir seltsam nah, in einem Zug zu sitzen, der gerade zum Werkzeug eines Freitodes gemacht wurde. Aber was auch immer diesen Menschen getrieben haben mag - irgendwie erschien er mir bewundernswert konsequent.

Denn noch tragischer als ein vollständiger Freitod kommt mir zuweilen jene Art der Selbstabschaffung vor, bei der jemand nur seine Seele, nicht aber seinen Leib tötet. Wenn jemand beschließt, sein zartes, verletzliches Herz in einen Panzer aus Kälte, Härte und einem ebenso dummen wie häßlichen Hochmut einzusperren, dann ist das unendlich schade. Wenn jemand sich hinter einer lächerlichen und unglaubwürdigen Fassade aus kühler Gleichgültigkeit, ja aus Herablassung und Unhöflichkeit zu verbergen sucht, weil er nicht möchte, daß seine Angst vor und seine Sehnsucht nach echter Liebe offenbar werden (obwohl sie es längst sind), dann hat er sich verloren. Und wer gar meint, seine ganze Lebensführung auf der Oberflächlichkeit schneller und unverbindlicher Vergnügungen aufbauen zu müssen, um Situationen zu vermeiden, in denen ein bißchen Mut zum Bekenntnis, zur Entscheidung und zum Vertrauen gefragt wäre, der wird sein Glück niemals finden.

Ich kannte mal eine zarte, wundervolle Seele, sprühend vor Phantasie und Neugier, und in ihrer scheuen Vorsicht unglaublich anziehend. Wenige Augenblicke hatte ich das unsagbare Glück, ihr ganz nah zu sein, sie ganz echt und unverschanzt zu erleben. Sie war glücklich wie nie zuvor (und nie danach), einem anderen Menschen gegenüber ganz und gar sie selbst sein zu dürfen, und ich liebte sie für ihre Zartheit und hätte sie bis ans Ende meiner Tage beschützt. Fast hätte sie begonnen, in ihrer verletzlichen Zartheit keine Schwäche mehr, sondern einen ganz besonderen Wert zu sehen. Dann aber bekam sie Angst und verschloß sich... nicht vor mir, sondern vor der Größe und Echtheit dessen, was zwischen uns entstand. Und Stück für Stück schaffte sie alles ab, was an ihr liebenswert und besonders gewesen war, gab sich auf, vergrub ihre Sehnsucht nach Liebe tief in ihrem starren Herzen und bekräftigte damit letztlich den Sieg all derer, die ihr jemals wehgetan haben.

Nicht in der Selbstabschaffung liegt der Ausweg aus dem Leiden, sondern in der Wertschätzung dessen, was man hat und was man ist. Nicht in der Härte findet man sein Glück, sondern in der Erfahrung, seine Verletzlichkeit einem Menschen anvertrauen zu können, der sie annimmt, liebt und schützt für alle Zeit.